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TITEL. UND EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE MIT 3 BILDERTAFELN (KABYLENZEICHNUNGEN)

ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSET- ZUNG IN FREMDE SPRACHEN VORBEHALTEN / COPY- RIGHT 1982 BY EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA

Das Ungeheuerliche

Das Grauenvolle reizt die Kabylen, nimmt aber nur selten in ihren Volksdichtungen bedeutsame Formen an. Es sind viel- mehr das Ungeheuerliche und das Fabelhafte, das sich zu märchen- haften Bildungen verdichtet. Das Ungeheuerliche (vorliegender Bd. II) überwiegt nun aber so stark im Volksinteresse, daß es wohl berechtigt ist, seine Aufschlüsse den Ergüssen des eigentlich Fabel- haften (Bd. III) voranzustellen.

Nicht etwa, als ob es an Grauenvollem mangelte. In Bd. I Nr. 24 S. 109 konnte ich schon einiges von den Schrecknissen berichten. Derartiges gibt es vielerlei. Dasind vor allem die,, Zurückkehrenden" (thahaurith; Plural: tihaurihen; in anderem Dialekt: tharuhauith; Plural: thiruhainen), die als gespenstische Schatten den Menschen bedrängen. Dann gibt es die Tiuchilin (Sing.: teauchilt), das sind Frauen, die am Freitag nacht unsichtbar die Dörfer durchziehen, die stets unsichtbar bleiben, die angeblich nur Gutes tun, deren ge- spenstisches Wesen aber dennoch gefürchtet wird. Ferner ist da Imsisen (Plural: imsislien), ein mauleselartiges Wesen, das umher- läuft, eine Art Glocke am Hals hat und diese schellend erklingen läßt; wenn Imsisen einem Menschen begegnet, so nimmt er ihn auf den Rücken und läuft mit ihm davon. Dann wiederum taucht hier und da eine Rauch- oder Wirbelsäule auf, die wie eine Wolke durch den Wald zieht und die Menschen vernichtet. Dagegen konnte ich von den Subachen, die in Westafrika und in den Ländern südlich der westlichen Sahara eine so große Rolle spielen, nichts finden, und die Irrlichter (assassen luali; Sing.: lulia) sind nur harmlose Erscheinungen.

Dem Grauenvollen gegenüber das Ungeheuerliche! Für alle Arten Ungeheuer gibt es nur einen Ausdruck: luachsch; Plural: leuhausch. Es ist ungemein bezeichnend, daß Löwen und Leoparden für die Kabylen ganz ebenso ,,Luasch** sind wie die Riesen und die Hexen. Die alten Kabylen fürchteten Riesen, Hexen, Leoparden und Löwen offenbar als gleiche Erscheinungen. Aber ein Grauen vor ihnen gab es nicht. Die Ungeheuer waren dem Mutigen über- windbar, was auf die gespenstischen Erscheinungen nicht zutrifft. Ihrer konnte man sich nur mit Hilfe magischer Mittel erwehren. Ihnen gegenüber spielte der Mut keine Rolle.

Von den nicht der natürlichen Umwelt angehörigen Ungeheuern gab es keine große Auswahl : Riesen, Hexen und Drachen. Die Riesen (wuarssen oder awartheniu; Plural: iwarsnieuen oder iwarthuniän) sind die gleichen plumpen Wesen wie bei uns. Sie sind kanniba- lisch, aber auch dumm-gutmütig und durchaus phantasielos. Ganz anders der Charakter der Hexen (Sing.: teriel oder tzeriel; Plural:

I Frobenius, Atlantis II. Band I

teriulat oder tzeriel). Diese sind bösartig, gerissen, rachsüchtig, hinterhältig. Sie repräsentieren den Frauentypus, den der Kabyle als Setut (Bd. I S. 40) bezeichnet. Sie sind Allverschlinger und nachts, wenn sie schlafen, erklingen aus ihrem Bauch die Stimmen von Fröschen, Löwen und anderen Tieren. Merkwürdig ist es, daß eine ganze Reihe von Abenteuern erzählt werden, die von einem Zusammentreffen mit Teriel berichten und als wahre Geschehnisse gelten. Zum dritten endlich gehört die siebenköpfige Schlange, der Drache = leph'ha oder lapha in die gleiche Sippe. Im Bd. III (S. 294 Nr. 53 Jäger) werden wir aber sehen, daß auch ein schönes Mädchen sich in ein Luasch, ein Ungeheuer verwandeln kann.

Die Erzählungen, in denen diese Ungeheuer die große Rolle spielen, nehmen bei den Kabylen etwa ein Drittel im ganzen Be- reich der ursprünglich eigenen, wie der später von anderer Seite zugeflossenen Volksdichtung ein. So war es ganz selbstverständ- lich, daß wir uns oft über die Riesen und Hexen und auch über ihr Heimatland unterhielten. Als ich in Tirual nun die ersten Nachrichten über die auch aus dem Lande der Riesen stammen- den Taubenfrauen erhielt, wurde mir zum erstenmal ganz spon- tan die Mitteilung zuteil, daß die Wuarssen am Himmel lebten: ,,bei den Sternen" (sie sagten aber nicht, daß es die Sterne wären). Dann kam auch zum ersten Male, ferner bei einer zweiten Er- zählung der Grabwache (Nr. 75) heraus, daß die Helden dieser Er- zählungen ihre Abenteuer am Himmel erleben sicherlich ein wichtiger Ausspruch für Jünger der vergleichenden Mythologie.

Die Erzählungen von den Kämpfen und Abenteuern mit Riesen und Hexen zeigen eine große Mannigfaltigkeit. Alte liebe Geschich- ten, wie die von Amor und Psyche, von Polyphem, den Schwanen- jungfrauen, den Amazonen usw. treten in neuen echt kabylischen Versionen zutage, und zwar was mir sehr bedeutsam erscheint nicht als von Fremden entlehntes Gut, sondern als genetisch mit der ganzen Fabulei Verwachsenes.

/. Der Amazonenkampf

Man spricht aus alter Zeit von einem Mann, der war sehr reich, aber er hatte keinen Sohn. Er heiratete eine erste Frau und erhielt drei Töchter von ihr. Er heiratete eine zweite Frau und er- hielt wiederum drei Töchter von ihr. Er heiratete eine dritte Frau und erhielt eine Tochter. Er hatte so sieben Töchter. Es waren sieben Mädchen von großer Schönheit, aber noch größerer Stärke. Der Mann war darüber, daß er keinen Sohn hatte, sehr traurig. Er heiratete, als seine Töchter schon heranwuchsen, eine vierte Frau.

Die älteste Schwester nahm ein Schwert und sagte zu ihren Schwestern: ,, Kommt, wir wollen auf das Feld reiten und mit- einander uns im Schwertkampf üben. Wir sind stark. Wir wollen den Kampf üben, bis wir stärker sind, als die Männer. Sechs von den Schwestern schlössen sich dem Vorschlage an. Die Jüngste aber sagte: ,,Ich bin stark genug mit meinen andern Mitteln. Wenn ich ein Büschel meiner Haare verbrenne, so erhalte ich alle Kunst und Kraft, die ich nötig habe. Ich habe die Kunst, mit dem Schwerte zu kämpfen, nicht nötig." Die Jüngste beteiligte sich nicht an den Kämpfen der sechs Schwestern. Die sechs andern wurden aber so stark und geschickt, daß jede einzelne von ihnen imstande war, dem Haufen eines Dorfhäuptlings zu widerstehen und ihn zu über- winden. Die sieben Schwestern aber lebten nur für sich und mit Frauen und Mädchen zusammen. Sie wollten mit keinem Mann etwas zu tun haben.

Eines Tages gebar die vierte Frau dem Vater einen kleinen Sohn. Es wurde ein großes Fest gefeiert. Die älteste Schwester sagte aber zu den andern fünf Schwestern, die mit ihr das Schwertfechten geübt hatten: ,,Wir wollen für unseren Bruder eine Frau erkämpfen. Am gleichen Tage mit ihm ist die Schwester des Wuarssen geboren, die ein überaus schönes und starkes Mädchen sein soll. Die Wuars- sen verteidigen diese kleine Schwester mit aller Tapferkeit. Schon vierzehn Agelith haben ihr Leben und ihre Mannschaft im Kampfe mit den Wuarssen eingebüßt, und jetzt kämpfen nur noch wenige Söhne der Agelith gegen die Wuarssen. Kommt Schwestern, wir wollen uns die Kleider der Männer anziehen, unsere Pferde be- steigen, die Schwerter ergreifen und gegen die Wuarssen kämpfen." Die fünf Schwestern waren einverstanden.

Die älteste Schwester ging zum Vater und bat ihn: ,,Mein Vater, erlaube mir und meinen fünf Schwestern auf die Reise zu gehen."

Der Vater sagte: „So wartet doch, bis euer Bruder herangewachsen ist. Dann werdet ihr männlichen Schutz haben. Wenn ihr solange warten wollt, will ich es gerne erlauben." Die älteste Schwester sagte: ,,Mein Vater, erlaube es uns; wir werden uns als Männer ver- kleiden, .und kein Mensch wird uns als Mädchen erkennen. Du weißt, wir sind stark; erlaube es uns." Die Mädchen baten lange. Der Vater gab zuletzt nach. Die sechs Mädchen zogen die Kleider von Männern an, steckten einiges Essen zu sich, eine jede bestieg ein Pferd. Sie nahmen von ihrer jüngsten Schwester, den Eltern und dem jungen Bruder Abschied und ritten fort durch das Land des Agelith gegen die Wuarssen.

Die Wuarssen waren weit in das Land der vierzehn Agelith ein- gedrungen. Die Agelith selbst waren getötet und mit der größeren Zahl ihrer Mannschaft gefallen. Es lebten nur noch sieben Söhne der Agelith, die waren jung, schön und stark. (Der Erzähler weiß nicht, ob dies richtige Brüder waren; er meint, es mögen die Söhne verschiedener Väter, d. h. Fürsten gewesen sein, die nun eine fürst- liche Brüderschaft gegründet hatten.) Sie zogen eines Tages wieder gegen die Wuarssen. Der eine der Agelithsöhne war sehr klug. Er brauchte nur auf seine Fingernägel zu sehen und erkannte, was ge- schah. Der kluge Agelithsohn sah auf seine Fingernägel und sagte: ,, Brüder, laßt uns schnell und mit aller Kraft die Wuarssen über- fallen. Ich sehe, daß unsere zukünftigen Frauen auf dem Wege sind. Nur die Frau unseres jüngsten Bruders ist daheim geblieben." Einer der andern Agelithsöhne sah sich um und sagte: ,,Ich sehe unsere Frauen nicht." Der erste Agelithsohn sagte: ,,Komm nur schnell!"

Die sieben Agelithsöhne stürzten sich mit aller Gewalt auf die Wuarssen. Die sechs Schwestern aber teilten sich. Sie wollten die Wuarssen umfassen. Zwei der Schwestern ritten im weiten Bogen herum. Ihre Pferde gingen durch. Die Pferde der zwei Schwestern waren nicht zu halten und führten sie in eine Entfernung, die man sonst in einem Jahre zurücklegt. Die vier anderen Schwestern brachen mit großer Gewalt über die Wuarssen herein und schlugen die Wuarssen. Einigen schlugen sie die Köpfe im Kampfe ab. Die andern waren über die Kraft und Geschicklichkeit der vier als Männer verkleideten Schwestern so entsetzt, daß sie besinnungslos durch den Wald entflohen.

Die vier Schwestern verfolgten die Wuarssen. Die Wuarssen ent- kamen. Die vier Schwestern kamen aber auf ihrem Wege an das

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Haus, in dem die Wuarssen ihre schöne Schwester unter dem Schutze einer alten Frau, einer Teriel, bewahrten. Die alte Teriel kam heraus, als sie die vier als Männer verkleideten Schwestern kommen hörte. Die Teriel sagte bei sich: ,,Ich rieche Menschen- fleisch" (wörtlich: nphrach thenphrach bennäden, d. h. man ist zu- frieden, Fleisch zu riechen). Sie begrüßte die vier als Burschen ver- kleideten Mädchen und sagte: ,,Wo wollt ihr eure Pferde anbinden? Soll ich sie dort am Baum anbinden?" Die als Burschen ver- kleideten Mädchen sagten: ,,Nein, binde sie dort an den Awaruak" (ein knoblauchartiges Gewächs). Die Teriel sagte ,,Es ist gut." Die vier als Burschen verkleideten Mädchen sagten jede ihrem Pferd in das Ohr: ,,Wenn dich die alte Frau anrühren will, tritt ihr mit den Füßen auf den Leib. Zertritt ihr mit den Füßen den Kopf !" Dann gingen die vier als Burschen verkleideten Mädchen in das Haus.

Die alte Teriel fragte sie: ,,Was soll ich euern Pferden zu fressen geben? Sollen sie Gerste oder Weizen haben?" Die vier als Bur- schen verkleideten Mädchen sagten: ,, Jetzt gib ihnen Kohle und nur am Morgen gib ihnen Korn." Die alte Teriel sagte: ,,Und was wollt ihr zu essen haben?" Die vier als Burschen verkleideten Mädchen sagten: ,,Wir haben erst gegessen, zeige uns aber die Quelle. Wir sind durstig und möchten an der Quelle trinken." Die alte Teriel ging voran. Drei der als Burschen verkleideten Schwestern folgten ihr. Die klügste Schwester aber blieb im Hause zurück und sagte: ,,Ich habe keinen Durst. Ich werde mich gleich hinlegen und schlafen."

Als die alte Teriel mit den drei Schwestern gegangen war, sah die kluge Schwester sich im Hause um. Sie sah in alle Kammern. Sie kam in eine Kammer, die war ganz aus Gold hergestellt. In der Kammer war die schöne junge Schwester der Wuarssen. Die kluge Schwester begrüßte sie und sagte: ,,Du bist die schöne Schwester der Wuarssen. Wir sind sieben Schwestern. Sechs von ihnen sind wir nun zum Kampf ausgezogen, um die Wuarssen zu be- siegen und dich für unseren jungen Bruder, der am gleichen Tage mit dir geboren ist, zu freien. Wir sind deinetwegen gekommen." Die schöne Schwester der Wuarssen sagte: ,,Dann laß mich nur alles machen. Ich will euch im Kampf gegen meine schlechten Brüder helfen und will euren Bruder heiraten."

Als es Nacht war, kam die alte Teriel mit den drei als Burschen verkleideten Schwestern wieder in das Haus. Die Schwester der Wuarssen hatte in das Essen der Teriel ein Betäubungsmittel ge- mischt. Die Teriel davon. Die Teriel schlief ein. Die Schwester

der Wuarssen und die vier als Burschen verkleideten Mädchen schlössen die Teriel ein. Dann gingen sie hinaus zu den Pferden. Die Schwester der Wuarssen sagte: ,,Eure Pferde taugen nichts. Sie sind für die Wuarssen nicht schnell genug. Ich will in den Stall der Pferde der Wuarssen gehen und will von dort Pferde holen, mit denen wir die Wuarssen bekämpfen und töten können." Die Schwester der Wuarssen ging und holte die Pferde. Sie bestieg selber eines und ritt mit den vier als Burschen verkleideten Mädchen noch in der Nacht hinter den Wuarssen her.

Inzwischen waren die zwei anderen Schwestern um die Wuarssen herumgeritten und hatten sie im Rücken angegriffen. Die vier anderen Schwestern griffen mit der schönen Schwester der Wuarssen die Wuarssen von vorne an. Die sieben Söhne des Agelith kämpften auf der Seite. Der Kampf ging hin und her. Bald wurden die Wuarssen zurückgeworfen, bald mußten die sieben Mädchen zu- rückweichen. Zuweilen hatten die von vorn und hinten angreifen- den Mädchen die Wuarssen ganz dicht zusammengedrängt, dann aber gewannen die Wuarssen wieder die Oberhand. So kämpften sie drei Jahre lang.

Eines Tages aber wurde die schöne Wuarssenschwester und die älteste der sechs als Burschen verkleideten Mädchen verwundet. Am gleichen Tage wurde auch der kluge Sohn des Agelith, der von den Fingernägeln ablesen konnte, schwer getroffen und fiel blutend auf die Erde. Er lag fast im Sterben und allein, während seine sechs Brüder weiterkämpften.

Inzwischen sagte die jüngste der sieben Schwestern zu ihrem Bru- der: ,,Mein Bruder, ich weiß, daß der Kampf gegen die Wuarssen nicht gut geht. Von den vierzehn Agelith, die früher mit den Wuarssen kämpften, sind nur noch sieben Söhne am Leben und im Kampfe. Auch von ihnen ist einer schon schwer verwundet und beinahe am Sterben. Die anderen gehen ihrer Verwundung ent- gegen. Unsere Schwestern haben die schöne Schwester der Wuars- sen gefunden und aus dem Hause der Teriel befreit. Die schöne Schwester der Wuarssen kämpft mit unseren Schwestern gegen ihre Brüder. Der Kampf geht hin und her. Bald siegen unsere Schwe- stern, die die Wuarssen von zwei Seiten angreifen, bald sind die Wuarssen siegreich und drängen unsere Schwestern zurück. Eine unsferer Schwestern ist schon schwer verwundet, und die Schwester der Wuarssen, die du einmal heiraten sollst, ist auch verwundet.

Es wird Zeit, daß wir dem Kampfe, der schon drei Jahre dauert, ein Ende machen, indem wir unseren Schwestern zu Hilfe kom- men. Gürte also dein Schwert und folge mir."

Die jüngste Schwester ging mit ihrem Bruder zu ihrem Vater und ihrer Mutter und sagte: ,,Mein Vater, meine Mutter! Unsere sechs Schwestern sind im heftigen Kampf mit den Wuarssen. Sie sind jetzt so weit entfernt, daß ich, um zu ihnen zu kommen, vier Jahre gebrauchen werde. Erlaubt mir, daß ich mit meinem jungen Bru- der meinen Schwestern zu Hilfe komme. Erlaubt es uns, und ich schwöre euch, daß ich am ersten Abend nach meiner Ankunft die sämtlichen Wuarssen vernichtet haben werde." Der Vater sagte: ,,Du also, meine jüngste Tochter, die ich mehr liebe als alle an- dern, willst mit deinem Bruder, meinem einzigen Sohne, auch dort- hin gehen?" Die jüngste Tochter sagte: ,,Soll ich denn meine Schwestern und unsere zukünftigen Gatten im Kampfe mit den Wuarssen sterben lassen?" Der Vater sagte: ,,So warne ich dich: Übernachtet wenigstens nicht in den Wäldern." Die jüngste Toch- ter sagte: ,,Mein Vater, ich schwöre dir bei dem Kopfe deines Groß- vaters, daß ich beide Wälder mit meinem Bruder durchziehen und kein wildes Tier am Leben lassen will!"

Die jüngste Tochter kleidete sich nun als Bursche. Sie nahm Essen mit. Das Mädchen und der Bruder gürteten die Schwerter um. Sie bestiegen die Pferde; sie ritten davon. Sie ritten, bis sie an den ersten Wald kamen, der acht Tage lang war.

Am Rande des Waldes von acht Tagen sagte das Mädchen zu seinem Bruder: ,,Ich werde als die ältere zwei Drittel des Waldes übernehmen. Übernimm du ein Drittel. Ich werde dann sehen, wie stark du bist. Wir werden viele Löwen, Panther, Teriel und andere wilde Tiere treffen und wollen sie alle töten." Der Bruder sagte: ,,Es ist gut." Die Schwester und der Bruder ritten nun in den Wald. Sie kämpften mit allen Tieren. Die Schwester war mit ihrem Teile zuerst fertig. Sie kam aus dem Walde heraus und blickte zurück. Sie sah den jüngeren Bruder ganz dicht umringt von fünfund- zwanzig Löwen, Panthern und Teriel nahe dem Ausgange des Waldes. Sie wollte ihrem Bruder zu Hilfe eilen. Der Bruder rief aber: ,,Laß nur, das mache ich allein." Dann führte er mit seinem Schwert drei Hiebe. Da lagen alle fünfundzwanzig Löwen, Panther und Teriel in viele Stücke zerschlagen tot umher. Als die jüngste Schwester das sah, sagte sie: ,,Mein junger Bruder ist stark, ich kann ihm Vertrauen schenken."

Die jüngste Schwester und ihr junger Bruder kamen an den Wald von einem Jahr (d. h. zu dessen Durchwanderung man ein Jahr braucht). Die jüngste Schwester sagte zu ihrem jungen Bruder: „Da du so stark und tapfer bist, will ich mit dir diese Arbeit teilen, nimm du die eine Hälfte des Waldes (d. h. zur Säuberung von den wilden Tieren), ich werde die andere Hälfte nehmen." Die jüngste Schwester und ihr junger Bruder ritten in den Wald hinein.

In dem Teile des Waldes, den die jüngste Schwester durchritt, be- fiel alle wilden Tiere die Furcht vor dem als Bursche verkleideten Mädchen. Die Tiere liefen alle fort. Die jüngste Schwester konnte nur wenige Tiere töten. Die meisten liefen zu dem Teile des jungen Bruders hinüber und kämpften mit diesem. So war die jüngste Schwester schon nach einem halben Jahr durch den Wald ge- kommen und ritt noch ein halbes Jahr auf der anderen Seite weiter. Sie machte dann erst Halt und wartete ein Jahr lang auf ihren jungen Bruder.

Der junge Bruder kämpfte ein Jahr lang schwer im Wald und war dann erst mit den wilden Tieren fertig geworden. Er kam aus dem Walde und nahm einen falschen Weg. Er kam an einen Fluß. Am Flußufer waren gerade sieben Wassernixen (tirochanien; Sing.: tarochanith) mit einer alten zusammen. Unter den Wassernixen war eine, die war so schön wie die Sonne. Sie war die jüngste unter den Wassernixen, und als sie den jungen Bruder sah, gewann sie ihn sogleich lieb. Die anderen sechs Wassernixen und die Alte sahen das und sagten: ,,Wir wollen den Burschen fangen und töten. So wie er ein Wort spricht, können wir uns seiner bemächtigen. Ver- anlasse ihn zu sprechen." Die junge Nixe liebte aber den jungen Bruder und sagte: ,,Ich werde es nicht tun." Da fielen die Schwe- stern und die Alte über die jüngste Nixe her, rissen ihr die Kleider vom Leib, schlugen sie und sagten: ,,Wenn der Bursche sieht, wie wir dich mißhandeln, wird er uns Vorwürfe machen und sprechen, und wir haben ihn!"

Der Bursche sah die schöne junge Nixe und gewann sie lieb. Er sah, wie die Alte und die sechs Schwestern ihr die Kleider vom Leibe rissen und sie schlugen. Er wollte hinzugehen und sagen: ,,Geht, wie könnt ihr sieben eine einzige schlagen!" Die schöne junge Nixe machte ihm aber ein Zeichen, daß er stehenbleiben und schweigen solle. Er tat es. Er blieb in der Entfernung stehen, sah zu und schwieg. Das Herz tat ihm weh, weil er nicht sprechen sollte, aber die schöne junge Nixe machte ihm ein Zeichen, und so

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Der Schluß des Amazonenkampfes. Oben von links nach rechts: der jüngste Bruder ; die jüngste Schwester ; eine ältere Schwester und ein Agelithsohn, ziehen gegen das Gehöft (Mitte des Bildes), in welchem das älteste Wuarssenpaar (links) wohnt, das die letzten Wuarssen (unten) beherrscht. (Zu Nr. i) Originalzeichnung eines Kabylen

blieb er stehen. Er sah ihre ganze Schönheit und konnte nichts als stehen und zusehen. So blieb er ein Jahr lang stehen und rührte sich nicht. Er nicht und trank nicht, das Herz schmerzte ihn, aber die jüngste schöne Nixe machte ihm ein Zeichen, und so schwieg er.

Die jüngste kluge Schwester des Burschen hatte inzwischen ein Jahr lang auf ihren Bruder gewartet. Als er nicht kam, riß sie sich einige Haare aus und verbrannte sie, um zu sehen, wo ihr Bruder sei. Sie sah die Richtung und ritt sogleich an den Fluß. Als sie an den Fluß kam und den Bruder stehen sah, rief sie: ,, Willst du hier verhungern?" Sie zog ihr Schwert und sprengte mit dem Pferde zwischen die sechs Nixen und die Alte. Sie jagte sie auf und tötete sie.

Die befreite jüngste Nixe sprang auf, dankte der jüngsten klugen Schwester und sagte: ,,Wo gehst du mit deinem Bruder hin?" Die jüngste kluge Schwester sagte: ,,Ich bin kein Mann; ich bin ein Mädchen wie du und die Jüngste von sieben Schwestern. Meine sechs Schwestern kämpfen seit drei Jahren mit den Wuarssen und sind daran zu unterliegen. Deshalb muß ich eilen ihnen zu helfen, denn ich habe noch ein Jahr Weges vor mir." Die junge Nixe sagte: ,,Ich will deinen jungen Bruder heiraten. Erlaube mir, daß ich mich auch als Bursche kleide, ein Schwert umbinde, ein Pferd besteige und mich am Kampf gegen die Wuarssen beteilige." Die jüngste kluge Schwester sagte: ,,Es ist mir sehr recht."

Die jüngste Nixe kleidete sich als Bursche, nahm ein Schwert, bestieg ein Pferd und ritt mit der jüngsten klugen Schwester und dem jungen Bruder in das Land, in dem die anderen Schwestern und die Agelithsöhne mit den Wuarssen kämpften. Sie ritten noch ein Jahr, dann langten sie an.

Die sechs Schwestern und die sieben Söhne der Agelith waren am Ende ihrer Kräfte. Sie waren alle verwundet und bluteten an vielen Stellen. Die Wuarssen glaubten sich schon Sieger und wären es am andern Tage auch gewesen. Als die jüngste Schwester, die Nixe und der Bruder ankamen, sahen sie es. Der Bruder stürzte sich an der Meerseite auf die Wuarssen. Die jüngste Schwester kam von der Landseite. Die Nixe griff in der Mitte an. Der Bruder warf auf seiner Seite alle Wuarssen in das Meer. Die Nixe tötete alle Wuars- sen, die ihr gegenüber standen. Vor der jüngsten Schwester fielen alle Wuarssen tot zu Boden.

Im Rücken der Wuarssen standen die Agelithsöhne. Als die

jüngste Schwester alle Wuarssen vor sich getötet hatte, stieß sie auf die Agehthsöhne. Die jüngste Schwester dachte: „Sind es noch mehr Wuarssen?" Sie zog ihr Schwert wieder und schlug auf die Agehthsöhne ein. Ihr Schwert drang aber nicht in die Kleidung der Agelithsöhne. Die jüngste Schwester sagte: ,,Was ist dieses? Dies können keine Wuarssen sein!" Sie zog sich ein Büschel Haare aus und verbrannte sie. Da erkannte sie, daß ihre Gegner die Agelith- söhne waren.

Die jüngste Schwester steckte das Schwert ein und sagte: ,, Haltet Friede, ich bin kein Wuarssen, wie ihr keine Wuarssen seid. Ihr seid unsere zukünftigen Ehegatten. Steckt eure Schwerter ein. Der Krieg mit den Wuarssen ist zu Ende." Die Tarochanith (Nixe) aber sagte: ,, Meine kluge Schwester, warte noch; der Krieg ist noch nicht ganz zu Ende. Es besteht noch ein Haus, in dem sind der große Wuarssen mit seiner Frau und sieben Haufen (seva l'mhäl) Krieger. Die bewachen dort die Schätze, die in 199 Kammern untergebracht sind. Der große Wuarssen und seine Frau schlafen noch. Wir können sie nur im Schlafe töten. Ich werde euch den Weg zeigen!" Die jüngste Schwester sagte: ,,Tu dies, wir wollen sogleich alles zu Ende führen."

Die Tarochanith ritt voran. Sie kamen an das Haus. Der große Wuarssen und seine Frau schliefen. Sie schichteten um ihre Kam- mern Holz an und entzündeten es. Der große Wuarssen und seine Frau verbrannten, ehe sie sich noch wehren konnten. Die Jüngste fand die 199 Schlüssel. Sie öffnete die 199 Häuser und fand sie ge- füllt mit allerhand Schätzen.

Dann ritt die jüngste Schwester umher und suchte die Ver- wundeten auf. Sie verband ihre Wunden, verbrannte Haare und brachte ihnen Speise und Trank. Nach einigen Tagen waren sie alle gesund. Die sieben Söhne der Agelith kamen zu den Schwestern und sagten: ,,Ihr habt das Land von den Wuarssen befreit. Ohne euch wäre alles vernichtet und die Welt zerschlagen worden. Wir bitten euch, unsere Frauen zu werden und uns zu helfen, die Welt neu aufzurichten."

Die jüngste Schwester sagte: ,,Wir wollen es tun. Wir haben unserem Bruder die schöne Schwester der Wuarssen gewonnen und die schlimmen Wuarssen getötet. Unsere Arbeit ist fertig. Wir wollen aber erst nach Hause reiten, wollen unsere Eltern begrüßen und die Kleider der Männer ausziehen. Dann werden wir hei- raten."

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Die sieben Schwestern ritten mit der schönen Schwester der Wuarssen und der schönen Tarochanith nach Hause. Sie begrüßten ihre Eltern. Dann legten alle neun Mädchen die Kleider der Burschen ab. Die sieben Schwestern heirateten die Söhne der Agelith und ihr junger Bruder die schöne Schwester der Wuarssen und die schöne Tarochanith.

2. Die undankbare Frau

Ein Mann hatte sieben Söhne. Alle sieben Söhne waren verhei- ratet. Eines Tages wurde der Vater sehr krank. Er rief seine Söhne zu sich und sagte ihnen: „Meine Söhne, ich bin sehr krank; ich kann nur am Leben bleiben, wenn ihr mir die Herzen eurer sieben Frauen zu essen gebt. Wenn ihr mich lieb habt, werdet ihr es tun."

Die sieben Söhne liebten ihren Vater sehr. Sie wußten nicht, daß ihr Vater die Herzen verlangte, weil er auf die Söhne ihrer schönen Frauen wegen eifersüchtig war. Die sieben Söhne sagten: ,,Wir wollen dir die Herzen unserer jungen Frauen geben."

Der älteste Sohn tötete seine Frau und brachte seinem Vater ihr Herz. In der folgenden Nacht brachte der zweite Sohn dem Vater das Herz seiner Frau. Jeden Tag brachte einer der Söhne dem Vater das Herz seiner Frau. Am siebenten Tage war die Reihe am sieben- ten Sohne. Der siebente Sohn war der stärkste unter seinen Brü- dern. Aber er war schwach am Herzen. Er war verheiratet mit der Tochter seines Vetters. Er hatte seine Frau sehr lieb. Er vermochte nicht seine Frau zu töten. Als es Nacht war, sagte er zu seiner Frau: ,,Nimm deine Sachen zusammen, wir wollen in den Wald fliehen. Ich kann dich nicht töten." Er brach mit seiner Frau auf und ging mit ihr die ganze Nacht hindurch.

Am Ende der Nacht sah der Bursche in der Ferne einen hellen Punkt, ein Licht. Er sagte zu seiner Frau: ,, Bleibe du hier zurück. Ich will hingehen und sehen, was dort ist." Die junge Frau blieb zurück. Der Bursche ging auf das Licht zu. Er kam. in ein Gehöft, in dem lebten 99 Wuarssen. Die Wuarssen hatten gerade ihr Nachtmahl gekocht. Es waren 99 tote Menschen in einem Koch- topf über dem Feuer. Der Bursche trat in das Zimmer und begrüßte die 99 Wuarssen. Die 99 Wuarssen sagten: ,, Deinen Gruß erwidern wir nicht. Wir wollen dich und die Erde, über die du gehst, ver-

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zehren. Was willst du?" Der Bursche sagte: ,,Ich will Feuer von euch haben, um mir im Walde etwas zu kochen." Die 99 Wuarssen sagten: „So nimm dir Feuer unter dem Topf hervor. Hebe den Topf auf, oder wir verschlingen dich!" Der Bursche nahm darauf den Topf mit den 99 Leichen hoch und warf ihn zur Seite. Als die Wuarssen das sahen, erschraken sie.

Der Bursche sagte: ,,Nun kommt ihr gegen mich!" Die 99 Wuars- sen kamen auf den Burschen zu, um ihn zu töten und zu ver- schlingen. Der Bursche ergriff einen nach dem andern, schnitt ihm den Hals durch und warf ihn in den Thetheraft. (Der Thetheraft ist ein Silos, eine Speichergrube im Hause, in der das Korn auf- bewahrt wird. Diese Speichergruben sind oft von bedeutender Tiefe.) So tötete er 98 von den Wuarssen. Den 99. aber verwundete er nur am Halse und warf ihn so in den Thetheraft, ohne daß er ganz tot war. Nachdem der Bursche das vollbracht hatte, schloß er das Haus, in dem der Thetheraft war, ab und ging in den Wald zu seiner jungen Frau zurück.

Der Bursche kam zu seiner jungen Frau und sagte zu ihr: ,,Ich habe dort ein sehr gutes Gehöft für uns gefunden. Komm mit." Der Bursche führte seine junge Frau in das Gehöft der Wuarssen, zeigte ihr alle Kammern und sagte: ,, Überall kannst du hier han- tieren und arbeiten. Nur in jenes Haus dort darfst du nie gehen. Versprich mir, daß du es nie tun willst." Die junge Frau versprach (wörtlich ,, beschwor") es. Von nun an lebte der junge Bursche mit seiner jungen Frau in dem Gehöft der Wuarssen. Der Bursche ging morgens fort auf die Jagd und kam abends wieder.

Eines Tages war der Bursche wieder auf der Jagd, da kam er an das Haus einer Teriel. Die Teriel stand gerade im Eingangsgelaß des Gehöftes und mahlte Weizen. Sie hatte lange Brüste (thibu- schni); die hatte sie, damit sie ihr die Arbeit nicht störten, über die Schulter nach hinten geschlagen, so daß sie auf dem Rücken her- unterhingen. Der Bursche schlich von hinten ganz vorsichtig (thelihuf heißt ,,mit Furcht"; wuhadauhadan heißt ,, leise") heran. Er ergriff die rechte Brust der Teriel und trank von ihrer Milch. Die Teriel wandte sich um und sah den Menschen. Sie sagte: ,, Jetzt hast du dich an meiner Brust genährt, jetzt werde ich dich wie meinen Sohn behandeln und dir nur Gutes antun. Komm und von meiner Speise."

Die Teriel setzte dem Burschen Essen vor. Sie plauderte mit ihm und sagte: ,, Nicht wahr, du hast die Tochter deines Vetters gehei-

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ratet? Nicht wahr, du hast sie vom Tode gerettet, als dein Vater ihr Herz essen wollte?" Der Bursche sagte: „So ist es." Die Teriel sagte: „Trotzdem wird diese Frau dir kein Glück bringen." Der Bursche sagte: „Ich kann es nicht glauben, daß diese Frau mir Un- glück bringen wird." Die Teriel sagte: ,,Du wirst es ja sehen! Komme nur immer zu mir, und wenn du etwas Schweres hast, dann sage es mir!" Der Bursche ging nun stets, wenn er auf die Jagd ging, bei dem Hause der Teriel vorbei und sprach mit ihr. Seiner Frau sagte er aber hiervon nichts.

Eines Tages, als der Bursche wieder zur Jagd fortgegangen war, ward die Frau des Burschen neugierig, zu erfahren, was wohl in dem Hause, das ihr zu betreten verboten war, sein möchte. Sie ging hin und legte ihr Ohr an die Tür. Sie hörte im Innern Stöhnen. Die Frau öffnete die Tür. Sie kam herein. Sie fand den Wuarssen, der die Wunde am Halse hatte. Die junge Frau sah den riesen- großen Mann und hatte ihre Freude an ihm. Der Wuarssen sagte: ,, Schwöre mir, daß du deinem Mann nichts sagen willst und ich will dir verraten, wer ich bin." Die junge Frau versprach es. Da er- zählte der Wuarssen alles, was sich zugetragen hatte. Die junge Frau hatte aber ihre Freude an dem großen Mann und verband seine Wunden, gab ihm Essen und pflegte ihn. Der Wuarssen aber sagte zu der jungen Frau: ,,Ich will dich heiraten, wenn du mir helfen willst, deinen Mann zu töten." Die junge Frau beschwor es. Die Frau besuchte den Wuarssen nun jeden Tag, sobald ihr Mann zur Jagd fortgegangen war.

Eines Tages sagte der Wuarssen zu der jungen Fran: ,,Wenn du nun willst, daß dein Mann getötet wird, so verlange von ihm bei seiner Liebe einige von den wiederbelebenden Äpfeln. (Diese mysti- schen Äpfel heißen bei den Kabylen sfah' lemadihör.) Diese Äpfel sind nur auf der anderen Seite des Meeres, und noch niemand ist von der Reise nach dem Lande der wiederbelebenden Äpfel lebend wieder zurückgekommen." Die junge Frau sagte: ,,Das will ich tun."

Als der Bursche abends von der Jagd nach Hause kam, fand er seine junge Frau weinend auf dem Bett. Der Bursche trat heran und sagte: ,,Was fehlt dir ?" Die junge Frau sagte: ,,Wenn du mich lieb hast, geh hin und bringe mir von den wiederbelebenden Äpfeln." Der Bursche sagte: ,,Steh auf! Ich werde mich morgen sogleich auf die Reise in das Land machen, in dem die wiederbelebenden Äpfel wachsen."

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Am andern Tage ging der Bursche fort. Er ging zur Teriel und sagte: „Meine Mutter! Meine Frau verlangt von mir, daß ich, wenn ich sie lieb hätte, ihr von den wiederbelebenden Äpfeln bringen sollte." Die Teriel sagte: ,,Es ist noch niemand von der Reise in das Land, in dem die wiederbelebenden Äpfel wachsen, lebend zurückgekommen. Du siehst, was deine Frau will. Ich habe dir immer gesagt, daß du mit deiner Frau kein Glück erleben würdest. Du wolltest es mir nicht glauben." Der Bursche sagte: ,,Wie komme ich in das Land, in dem die wiederbelebenden Äpfel wachsen?" Die Teriel sagte: ,,Wenn du es durchaus willst, gehe also in dieser Richtung. Du wirst die Ochsen finden, denen Fleisch zum Essen vorgelegt ist und Hunde, die die Eßnäpfe voll Stroh haben. Gib den Hunden das Fleisch. Behalte aber davon ein gutes Stück. Den Ochsen gib dann das Stroh. Unter den Ochsen ist ein großer schwar- zer Stier. Tritt an ihn um ihn zu besteigen. Der Stier wird darüber so zornig werden, daß er dich mit den Hörnern in die Luft wirft. Er wird dich so hoch schleudern, daß du über die sieben Meere hinweggelangst in das Land, in dem die wiederbelebenden Äpfel wachsen. Pflücke davon, soviel du brauchst. Auf dem Baume hat ein großer Adler sein Nest. Steige mit dem Stück Fleisch in das Nest und gib es seinen Jungen zu fressen. Der Adler wird dich dann nach Hause zurücktragen." Der Bursche dankte der Teriel und machte sich auf die Wanderschaft.

Nachdem er weit gewandert war, kam der Bursche dorthin, wo den Ochsen das Fleisch zum Essen vorgelegt war und die Hunde in den Eßnäpfen Stroh hatten. Der Bursche gab den Hunden das Fleisch, behielt aber ein Stück davon. Den Ochsen gab er dann das Stroh. Danach trat er an den großen schwarzen Stier und tat so, als ob er ihn besteigen wolle. Der Stier ward darüber so zornig, daß er ihn mit den Hörnern in die Luft warf. Er schleuderte den Burschen so hoch, daß er über die sieben Meere flog und gerade bei dem Baume niederfiel, auf dem die wiederbelebenden Äpfel wuch- sen. Der Bursche stieg auf den Baum. Erst pflückte er acht von den wiederbelebenden Äpfeln und steckte sie in seine Brusttasche. Dann stieg er noch höher, dahin, wo das Nest des Adlers war und gab den Jungen des Adlers das Fleisch zu fressen. Nach einiger Zeit kam der Adler und sah, daß der Bursche seine Jungen gefüttert hatte. Der Adler sagte: ,,Ich danke dir; ich danke dir. Ich will dich hintragen, wohin du willst." Der Bursche sagte: ,,So trage mich über die sieben Meere hinweg in meine Heimat." Der

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Adler nahm den Burschen auf seine Flügel und trug ihn über die sieben Meere hinweg nach dem Walde, in dem der Bursche wohnte.

Der Bursche ging zu der Teriel. Er gab ihr vier von den wieder- belebenden Äpfeln. Dann ging er in das Gehöft, in dem er seine Frau zurückgelassen hatte und sagte: ,,Hier hast du das, was du von mir wünschtest." Der Bursche gab ihr die vier anderen wieder- belebenden Äpfel.

Am andern Tage, als der Bursche wieder zur Jagd fortgegangen war, gab die junge Frau dem Wuarssen die vier wiederbelebenden Äpfel und sagte zu ihm: ,,Mein Mann ist nicht, wie die andern, unterwegs umgekommen. Mein Mann hat die wiederbelebenden Äpfel gebracht. Sage mir nun, wie wir ihn töten können." Der Wuarssen sagte: ,, Sprich morgen eindringlich mit deinem Mann und sage ihm: ,Ich fürchte mich hier immer sehr, wenn du fort bist, denn hier sind viele wilde Tiere. Wirst du sie auch immer be- wältigen können? Darf ich einmal deine Kraft erproben und dich binden, um zu sehen, ob du auch noch so stark bist wie früher?* Wenn dein Mann sich dann von dir binden läßt und er nicht mehr frei kommen kann, will ich ihn töten und verschlingen." Die junge Frau war damit einverstanden.

Als der Bursche abends von der Jagd heimkehrte, saß seine Frau auf ihrem Lager und weinte. Der Bursche fragte: ,,Was hast du? Was fehlt dir?" Die junge Frau sagte: ,,Wenn du fort bist, fürchteich mich immer so sehr, denn hier sind sehr viele wilde Tiere. Wirst du sie auch immer bewältigen können ? Darf ich einmal deine Kraft er- proben und dich binden, um zu sehen, ob du auch noch so stark bist wie früher?" Der Bursche sagte: ,,Ja, versuche es und binde mich." Der Bursche stellte sich an einen Stützbalken. Die junge Frau band ihn mit drei starken Stricken an Füßen und Händen um den Stützpfeiler. Der Bursche sagte: ,,Bist du fertig?" Die junge Frau sagte: ,,Ja, ich bin fertig. Versuche, ob du dies zerreißen kannst." Der Bursche streckte die Arme und Füße. Die Schnüre sprangen auseinander. Der Bursche lachte und sagte: ,, Soviel Kraft habe ich noch. Da mußt du schon mehr Stricke nehmen." Die junge Frau band ihren Mann dann mit sieben Stricken an Füßen und Armen am Stützpfeiler fest. Der Bursche streckte aber wieder die Füße und Arme, und die Schnüre zerrissen. Zum dritten- mal nahm die junge Frau viele Stricke und band damit den Gatten an Füßen und Händen. Der Bursche streckte aber wieder Arme und

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Beine, und die Schnüre zerrissen. Der Bursche sagte: ,,Du siehst, du kannst ruhig sein, ich habe noch meine Kraft."

Am andern Tage ging der Bursche wieder auf die Jagd und in das Haus der Teriel. Er erzählte der Teriel alles, was sich ereignet hatte, und die Teriel sagte: ,,Du siehst, daß ich recht hatte, als ich sagte, diese Frau würde dir Unglück bringen. Das Unglück ist nun nahe. Wenn du nun eines Tages in deinem Hause getötet wirst, tue eines. Ehe du getötet wirst, bitte deine Frau: ,Wenn ich gegessen werde, zerbrecht nicht meine Knochen. Sammelt alle meine Knochen und tut sie in einen Sack. Den Sack mit meinen Knochen ladet meinem Esel auf und sagt zu ihm: thimthäm (Gerste) iseu (rösten) älmäl (Tier) ousäi* (des Esels)." (Dieser Spruch soll soviel heißen wie: ,,Esel geh dahin, wo du gewöhnlich deine Gerste bekommst".) ,,Wenn du das gesagt hast, kann noch alles gut werden. Ich weiß aber jetzt, daß deine Frau dich töten will und wird und deshalb ver- sprich mir dies." Der Bursche versprach es und kam abends nach Hause.

Als der Bursche nach Hause kam, sagte seine Frau zu ihm: ,,Du hast viele Stricke zerreißen können. Kannst du ein Frauenhaar zerreißen?" Der Bursche lachte und sagte: ,, Versuche es!" Die junge Frau band ihren Gatten mit Händen und Füßen an den Stütz- pfeiler und nahm hierzu nur eines von ihren eigenen Haaren. Der Bursche streckte dann Beine und Arme. Das Haar hielt ihn. Der Bursche konnte sich nicht rühren. Der Bursche sah, daß er nicht freikommen konnte. Er rief: ,,So komm doch hervor, Wuarssen!" Der Wuarssen fürchtete sich aber so, daß er es nicht wagte. Da gab die eigene Frau ihm einen Schlag mit der Debus (Schlagkeule) an den Kopf. Die junge Frau rief: ,,Sieh, ich kann ihn schlagen, ohne daß er sich zu wehren vermag." Nun kam der Wuarssen her- vor. Der Bursche sagte: ,,Ich sehe, ihr werdet mich töten und fressen. Wenn ihr dies nun tut, so zerbrecht wenigstens meine Knochen nicht. Sammelt meine Knochen und tut sie in einen Sack. Den Sack mit meinen Knochen ladet meinem Esel auf und sagt zu ihm: ,Thimthäm iseu älmäl ousäi*." Der Bursche ward getötet. Der Wuarssen fraß ihn. Der Wuarssen und die junge Frau zer- brachen aber die Knochen nicht. Sie sammelten seine Knochen und taten sie in einen Sack. Den Sack banden sie dem Esel des Burschen auf und sagten zu ihm: ,, Thimthäm iseu älmäl ousäi!" Der Esel lief mit dem Sack voll Knochen davon.

Der Esel lief mit den Knochen des Burschen im Sack zu der

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Teriel. Die Teriel empfing den Esel. Sie nahm ihm den Sack ab und weinte über die Knochen. Die Teriel legte alle Knochen auf der Erde zusammen, so wie sie gehörten. Dann bedeckte sie die Knochen mit Seide und Wolle. Jeden Morgen begoß sie die Knochen mit Milch. Nach einiger Zeit wurde der Körper wieder. Der Körper nahm zu, bis er war wie vorher. Dann nahm die Teriel einen der wiederbelebenden Äpfel, die der Bursche ihr geschenkt hatte. Sie hielt dem Burschen den wiederbelebenden Apfel unter die Nase. Der Bursch nieste (-arteth). Von nun an konnte er sich bewegen. Sie gab ihm nun täglich ein Ei und Milch. Er wurde wie früher und gewann seine Gesundheit wieder.

Eines Tages sagte der Bursche zu der Teriel: ,, Mutter, ich möchte in mein Haus zurückkehren." Die Teriel wies ihm einen Sack mit Salz und einen mit Eisen (-uththsu) und sagte: ,,Nimm jeden der Säcke in eine Hand und hebe sie." Der Bursche ergriff sie. Er ver- mochte sie kaum zu heben. Die Teriel sagte: ,,Es ist noch nicht Zeit." Nach einiger Zeit sagte der Bursche wieder: ,, Mutter, ich möchte in mein Haus zurückkehren." Die Teriel hieß ihn die Säcke heben. Er hob sie bis zum Knie. Die Teriel sagte: ,,Es ist noch nicht die Zeit." Nach einiger Zeit sagte der Bursche wieder: ,, Mutter, ich möchte in mein Haus zurückkehren!" Die Teriel hieß ihn die Säcke heben. Er hob sie bis an die Schulter. Die Teriel sagte: ,,Es ist noch nicht an der Zeit." Nach einiger Zeit sagte der Bursche wieder: ,, Mutter, ich möchte in mein Haus zurückkehren." Die Teriel hieß ihn die Säcke heben. Er hob sie hoch in die Höhe und warf sie über die Schulter hinweg weit rückwärts. Die Teriel sagte: ,,Mein Sohn, jetzt ist es an der Zeit. Gehe in dein Haus zurück." Der Bursche zog sich wie ein Bettler an und ging.

Der Bettler kam an sein Haus. Er klopfte an und bat: ,, Könnt Ihr mir nicht etwas Essen schenken?" Die junge Frau sprach von innen: ,,Mein Mann ist nicht daheim. Deshalb kann ich dir jetzt nicht öffnen. Mein Mann wird aber heute abend nach Hause kom- men. Warte bis dahin." Der Bettler wartete. Er setzte sich vor dem Gehöft hin und wartete. Als es Abend war, kam der Wuarssen nach Hause. Die Frau ging ihm entgegen. Der Wuarssen schloß hinter sich die Tür. Der Bettler sah, daß er vergessen war.

Der Bettler hustete an der Tür. Die junge Frau sagte zu ihrem Mann, dem Wuarssen: ,,Jaso, draußen steht ein Bettler. Wollen wir ihn hereinlassen und ihm etwas zu essen geben ?" Der Wuarssen sagte: ,,Laß ihn hereinkommen." Die Frau öffnete die Tür. Sie

2 Frobenius, Atlantis II. Band ^7

sagte zum Bettler: ,,Komm herein, mein Mann erlaubt es." Der Bettler setzte sich in eine Ecke. Die Frau gab ihm Essen. Der Wuarssen blickte in die Ecke. Er sagte: „Kenne ich diesen Mann nicht? Ist es nicht dein erster Mann?" Die Frau lachte und sagte: ,,Wie doch? Meinen ersten Mann haben wir doch getötet und du hast ihn gegessen!" Der Wuarssen gab sich zufrieden.

Nach dem Essen sagte der Bettler zu dem Wuarssen und seiner Frau: ,,Nun wollen wir uns Märchen erzählen. Wollt ihr eines er- zählen?" Der Wuarssen sagte: ,,Wir wohnen hier in der Einsam- keit. Wir sehen und hören niemand. Wir kennen nur den Wald. Du aber kommst weit herum. Du hörst die Leute sprechen. Er- zähle du uns ein Märchen."

Der Bettler sagte: ,Ja, ich werde euch eine Geschichte erzählen. Hört!" Der Bettler begann seine eigene Geschichte zu erzählen. Er erzählte, wie er seine Frau vor dem Tode rettete. Er erzählte, wie er das Haus von den Wuarssen erkämpfte. Er erzählte, wie die junge Frau mit dem Wuarssen Freundschaft schloß. Er erzählte, wie seine Frau ihn wegsandte mit dem Wunsche nach den wieder- belebenden Äpfeln. Er erzählte, wie seine Frau ihn mit Stricken zu binden versuchte. Er erzählte, wie seine Frau ihn mit einem Frauenhaar band. Er erzählte, wie seine Frau ihn mit der Debus schlug und rief: ,,Sieh, ich kann ihn schlagen, ohne daß er sich zu wehren vermag." Er erzählte, wie sie ihn töteten, aßen, seine Knochen in einen Sack auf den Esel banden und fortschickten.

Während der als Bettler verkleidete Bursche dies erzählte, ver- schlang (= äthvila) die Erde (=^achel) den Wuarssen und die junge Frau. Sie waren beide ganz still und sagten nichts. Nur der Bettler sprach. Die Erde verschlang sie ganz langsam. Der Wuars- sen und seine Frau saßen ganz still und hörten. Nur der Bettler sprach und erzählte, was die junge Frau an ihm getan. Die Erde hatte den Wuarssen und seine junge Frau schon bis an den Kopf verschlungen. Der Bursche sprang auf, warf das Kleid des Bettlers fort, zog seinen Säbel und schlug die Köpfe des Wuarssen und seiner Frau ab, ehe die Erde sie noch verschlungen hatte.

Der Bursche sah sich im Hause um. Er fand eine Wiege ( = due'h' ; ausklingend in den arabischen l'ha-Laut) und darin ein kleines Kind. Er nahm die Wiege und das kleine Kind mit sich und machte sich auf den Rückweg zu der Teriel. Unterwegs erwachte das Kind in der Wiege und schrie: ,,Ah, deine Ohren sind rot! Ich möchte sie essen!" Der Bursche sagte: ,,Hä! Du bist also der Sohn des

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Wuarssen!" Er ergriff das Kind und warf es gegen einen Stein. Das Kind starb. Es war das letzte Wuarssenkind in diesem Lande. Der Bursche kam zu der Teriel und sagte: „Jetzt ist alles in Ord- nung." Die Teriel empfing ihn freundlich, gab ihm zu essen und pflegte ihn. Der Bursche lebte gut bei seiner Mutter Teriel.

Nachdem der Bursche aber einige Zeit bei der Teriel gelebt hatte, wurde er traurig. Er kam eines Tages zur Teriel und sagte: ,, Mutter Teriel! Erlaube mir, daß ich zu meinem Vater zurück- kehre." Die Teriel sagte: ,,Mein Sohn, du hast recht. Bereite dich zu dieser Reise vor. Ich werde dir zwei Geschenke mitgeben." Dann gab die Teriel dem Burschen eine geschlossene Kiste und einen Neger als Geschenk und sagte: ,, Schwöre mir, daß du die Kiste nicht öffnen willst, ehe du nicht bei deinem Vater angekommen bist. Wenn du es nicht tust, wirst du großem Unglück entgehen." Der Bursche versprach es und machte sich mit der Kiste und dem Neger auf den Weg.

Der Bursche wanderte mit der Kiste und dem Neger in der Rich- tung auf den Ort seines Vaters weit fort. Als er eines Nachts im Walde lagerte, sagte er bei sich: ,,0b die Teriel mir nicht doch in ihrer Verstimmung über meinen Abschied ein Geschenk mitgegeben hat, welches mich tötet, wenn ich daheim gerade angekommen bin. Besser wird es sein, ich überzeuge mich hier davon." Der Bursche öffnete die Kiste. In der Kiste lag ein wunderschönes Mädchen. Es war die Tochter der Teriel. Sie war so schön, daß sie einen weiten Glanz um sich verbreitete. Die Tochter der Teriel hatte an ihrem Finger einen Ring. Mit dem Ringe konnte sie erreichen, was sie sich an Schätzen und Gold und Besitz wünschte.

Der Bursche war über die schöne Tochter der Teriel über alle Maßen glücklich. Er zerbrach die Kiste und sagte: ,, Meine kleine Frau, du sollst mir nicht wieder in eine so enge Kammer kommen. Wir wollen sogleich in den Ort meines Vaters zurückkehren und uns dort ein großes Haus errichten." Der Bursche weckte den Neger und brach mit dem Neger und seiner schönen jungen Frau sogleich auf. Sie kamen noch vor Anbruch des Tages an den Ort, in dem der Vater des Burschen Agelith war. Mit Hilfe des Ringes am Finger der schönen Frau ließen sie gegenüber dem Haus des Agelith sogleich ein hohes Haus entstehen. In dem Hause legten sie sich auf schönen Betten zum Schlafen nieder.

Als die Bewohner am andern Morgen erwachten, sahen sie das

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neue schöne Haus und erstaunten. Sie liefen zum Agelith und er- zählten ihm, was vorgefallen war. Der Agelith trat an das Fenster. Er sah das schöne Haus. Er sandte eine Dienerin, daß diese sehe, wer in dem Hause wohne. Die Dienerin kam in das neue Haus. Die Dienerin sah, daß der Herr des neuen Hauses der Sohn des Agelith war. Sie kam zurück zum Agelith und sagte: ,, Dieser Mann, der das neue schöne Haus gebaut hat, ist dein Sohn, der seinerzeit floh. Dein Sohn hat eine sehr schöne Frau."

Der Agelith machte sich auf den Weg. Der Agelith kam in das neue Haus. Er sah seinen Sohn. Er sah den Neger. Er begrüßte den Sohn und sagte: ,,Ich bin dein Vater, ich will dich begrüßen." Der Agelith sah die junge Frau seines Sohnes. Er erschrak, so schön war sie. Er ward von Eifersucht gegen seinen Sohn ergriffen. Er wollte selbst diese schöne Frau heiraten. Er verließ seinen Sohn und ging in sein Haus zurück.

Der Agelith rief seine Leute zusammen und sagte: ,,Mein Sohn ist zurückgekehrt. Ich will meinen Sohn nicht hier haben. Wer meinen Sohn fortschafft, wer meinen Sohn tötet, den werde ich reichlich belohnen." Ein Jude sagte: ,,Ich will das tun." Der Agelith sagte: ,,So nimm das Recht!"

Der Jude besuchte den Burschen in seinem neuen Hause und sagte zu ihm: ,,Ich kenne eine Stelle, an der viele Tiere sind. Komm mit mir und jage mit mir! Wenn es dir recht ist, wollen wir zu- sammen zur Jagd gehen." Der Bursche sagte: ,,Es ist mir recht." Am andern Tage packte der Jude viel Salzfleisch ( = aschedeloch) und zwei Kürbisflaschen voll Wasser ein. Er holte den Burschen ab. Er führte ihn in den Busch, in dem viele Tiere waren. Er führte ihn in die Wüste. Nach einiger Zeit sagte der Bursche: ,Jude, ich habe Hunger; hast du etwas zu essen mitgebracht?" Der Jude zog das Salzfleisch heraus und sagte: ,,Hier iß!" Der Bursche viel davon. Als er sich satt gegessen hatte, sagte er: ,,Nun habe ich genug gegessen. Hast du zu trinken?" Der Jude sagte: ,,Ich habe nur ein wenig Wasser für mich zum Trinken mitgenommen." Der Jude ging mit dem Burschen weiter.

Als sie in der Wüste ein Stück weitergegangen waren, sagte der Bursche: ,,Ich gehe nicht weiter mit, mich dürstet zu sehr." Der Jude sagte: ,,So nimm noch ein wenig von dem Fleisch. Dann wird dein Durst vergehen." Der Bursche noch von dem Fleisch. Sein Durst wurde noch größer. Er ging noch ein Stück weiter, dann sagte er: „Ich gehe nicht weiter mit. Ich sterbe vor Durst." Er

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legte sich in der Sonne hin und stöhnte. Der Jude sagte: „Wenn du mir eines von deinen Augen gibst, gebe ich dir dafür einen Kürbis voll Wasser!" Der Bursche sagte: „Nimm eines meiner Augen und gib mir Wasser." Der Jude nahm dem Burschen ein Auge heraus und gab ihm die Kürbisflasche voll Wasser.

Der Bursche trank und sagte: „Das verlängert mein Leben nur um eine Stunde, wenn du mir nicht mehr Wasser geben kannst." Der Jude sagte: ,,Wenn du mir auch noch dein anderes Auge gibst, sollst du noch eine Kürbisflasche voll Wasser haben." Der Bursche sagte: ,,Nimm mein anderes Auge und gib mir das Wasser." Der Jude nahm das andere Auge heraus, gab ihm die Kürbisflasche voll Wasser und lief mit den beiden Augen des Burschen in den Ort. Er brachte dem Vater des Burschen die beiden Augen und sagte: ,,Dein Sohn ist getötet, hier sind seine beiden Augen."

Der Agelith nahm die Augen seines Sohnes, belohnte den Juden und sagte: ,,Nun komm mit. Mein Sohn ist tot; ich will die junge schöne Frau aus seinem Hause holen. Der Agelith kam mit seinen Leuten an das Haus seines Sohnes. Er wollte in das Haus ein- treten. Der Neger stand aber mit einem Schwert am Eingang des Hauses und sagte: „Solange mein Herr abwesend ist, darf niemand das Haus betreten. Ich werde jeden töten, der das Haus betritt." Der Agelith sagte zu seinen Leuten: , »Schlagt diesen Neger tot!" Die Leute kamen heran und kämpften mit dem Neger. Der Neger schlug sie tot. Von dem Tag an kämpften die Leute des Agelith gegen den Neger. Aber keiner konnte den Neger besiegen. Der Neger schlug alle seine Gegner tot. Der Agelith ließ überall im Lande die jungen Leute zusammenrufen, daß sie gegen den Neger kämpften.

Inzwischen war der blinde Bursche mit Mühe auf Händen und Füßen aus der hellen Sonne in den Schatten der Bäume gekrochen. Er ruhte in dem Schatten und schlief ein. Als er wieder erwachte, hörte er über sich Vögel schreien. Auf dem Baume hatte ein uralter Adler sein Nest. Der Adler war so alt, daß er keine Federn mehr hatte. Als es Abend war, fror er. Die Jungen des Adlers kamen heran. Der alte nackte Adler sagte: ,, Deckt mich zu!" Die Jungen des Adlers sagten: ,,Nein, wir decken dich nicht zu." Der alte Adler sagte: ,, Weshalb wollt ihr das nicht tun?" Die Jungen sagten: „Wir trauen den Alten nicht mehr, wer weiß, was unsere Väter mit uns tun? Sieh den Mann hier unten. Sein eigener Vater hat dem Juden den Auftrag gegeben, ihm die Augen auszustechen. Wir

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fürchten, unsere Alten könnten es mit uns eines Tages auch so niachen."

Der alte Adler sagte: „Dieser Mann da unten kann sich sehr leicht helfen. Er braucht nur ein Blatt von diesem Baume abzu- reißen und es zwischen den Händen zu zerreiben. Wenn er die zer- riebene Blattmasse nachher auf seine Augen legt, wird er besser sehen als zuvor." Der Bursche unter dem Baume hörte alles. Er richtete sich auf, pflückte ein Blatt von dem Baume, zerrieb es zwischen den Händen und blickte um sich. Er konnte die Sterne sehen. Er konnte den Mond sehen. Er sah besser als zuvor. Er dankte den jungen Adlern. Die jungen Adler deckten den alten nackten Adler zu.

Der Bursche machte sich auf den Heimweg. Er kam nahe dem Orte seines Vaters in eine Farm; in dem Hause war eine einzige alte Frau, die weinte. Der Bursche trat in das Haus ein und fragte: ,, Kannst du mich zur Nacht beherbergen?" Die Frau sagte: ,,Ja, lege dich dorthin." Der Bursche fragte: ,,Was hast du, meine Mutter? Du scheinst mir nicht glückhch zu sein." Die Frau sagte: ,,Ich soll glücklich sein? Der Agelith will die Frau seines toten Sohnes heiraten und in dessen Haus eindringen. Vor dem Hause steht aber ein Neger und schlägt alles tot. Morgen soll nun mein Sohn mit anderen jungen Leuten gegen den Neger kämpfen. Mein Sohn und seine Freunde werden totgeschlagen werden wie alle andern."

Der Bursche sagte: ,,Wenn du mir das Huhn dort zum Abend- essen gibst, damit ich für morgen stark bin wenn du mir dann noch die Kleider deines Sohnes gegen meine Kleider austauschst, so will ich morgen an Stelle deines Sohnes hingehen und mit dem Neger kämpfen. Die Frau schrie vor Freude (ju-ju-ju). Sie be- reitete nicht das Huhn. Sie schlachtete ein Schaf zum Abend. Sie machte ein ausgezeichnetes Essen. Der Bursche und legte sich dann zum schlafen nieder.

Am andern Morgen kleidete der Bursche sich in die Kleider des jungen Bauern und ging nach dem Orte, in dem sein Vater Agelith war. Er kam zu dem Agelith. Der Agelith erkannte seinen Sohn nicht. Der Bursche sagte zu seinem Vater, dem Agelith: ,, Agelith, was gibst du mir, wenn ich den Neger ganz allein töte ?", Der Agelith sagte: ,,Dann will ich mein Amt niederlegen und du sollst, wer du auch seist, an meiner Stelle Agelith werden. Außerdem gebe ich dir meine Tochter und mein ganzes Vermögen." Der Bursche sagte: „Gut, dann will ich den Neger töten."

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Der Bursche ging hin zu seinem eigenen Hause. Er kam mit dem Schwert und begann mit dem Neger zu kämpfen. Er kämpfte mit dem Neger den ganzen Tag. Am Abend war der Neger ermüdet. Er ging in das Haus und sagte zu seiner Herrin, der Tochter der Teriel: ,, Dieser Mann, der heute mit mir kämpfte, hat ein Blut und eine Kraft wie mein Herr, dein Gatte." Die Frau des Burschen sagte: ,,Ruhe dich morgen aus. Ich werde morgen an deiner Stelle kämpfen."

Am andern Morgen kämpfte die Tochter der Teriel gegen den fremden Burschen, ihren eigenen Gatten. Sie hatte mit ihm aber erst einige Hiebe gewechselt, da erkannte sie den Burschen als ihren Mann. Sie wollte Freudenschreie (ju-ju-ju) ausstoßen. Der Bursche aber sagte: ,,Laß dir nichts merken! Kämpfe weiter. Schlage immer weiter!" Der Bursche und seine Frau kämpften weiter miteinander. Der Bursche sagte zu seiner Frau (während des Kampfes): ,,Mein Vater hat mir versprochen, von seiner Stelle zurückzutreten und mich zum Agelith zu machen, wenn ich den Neger töte. Binde also morgen dem Neger einen Darm voll Blut um. Den werde ich durchschlagen. Der Neger soll, wenn das Blut über ihn fließt, hinstürzen. Mein Vater muß mich dann zum Agelith machen, und ich kann über ihn richten. Das alles erkläre dem Neger genau, damit morgen alles zu Ende kommt." Die junge schöne Frau kämpfte weiter und sagte: ,,Ich habe ver- standen, mein Gatte; ich werde morgen alles so einrichten, wie du es angeordnet hast."

Am andern Tage trat wieder der Neger vor die Tür des Hauses um zu kämpfen. Der Bursche begann mit dem Schwerte auf ihn zu schlagen und fragte ihn während des Kampfes: ,,Hast du den Darm mit dem Blut um den Hals?" Der Neger sagte: ,,Ich habe den Darm mit dem Blut um den Hals; schlage ihn nur durch." Der Bursche schlug auf den Darm. Der Darm zerplatzte. Das Blut floß über den Neger. Der Neger fiel um. Der Bursche wandte sich um zu denen, die von ferne dem Kampf zugeschaut hatten und sagte: ,,Ihr seid meine Zeugen, daß ich den Neger erschlug." Die Leute sagten: ,, Gewiß, wir sind deine Zeugen."

Der Bursche ging mit den Zeugen zum Agelith und sagte: „Ich habe allein den Neger getötet. Hier sind meine Zeugen." Der Agelith sagte: ,,Es ist gut, ich will mein Wort erfüllen. Nur will ich als letzte Handlung als Agelith noch den sieben weisen Leuten des Ortes eine Frage vorlegen!" Der Bursche sagte: „Damit, daß du

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als letzte Handlung als Agelith den sieben weisen Leuten noch eine Frage vorlegst, bin ich einverstanden."

Der alte Agelith rief die sieben weisen Leute des Ortes zusammen und sagte: „Ist es erlaubt, daß ich die Frau meines Sohnes heirate?" Sechs der weisen Leute sagten: ,,Ja, es ist erlaubt." Der siebente sagte: ,,Nein, es ist nicht erlaubt." Der Agelith ließ seine Leute kommen und sagte: ,, Schlagt diesen weisen Mann, damit er mir mit mehr Weisheit antworte." Der Bursche aber sagte: ,,Laßt das! Der weise Mann hat recht. Jetzt bin ich Agelith ! Es ist nicht er- laubt." Damit schlug er dem Agelith den Kopf ab.

Der junge Agelith sagte: ,, Dieser hier hat erst die jungen Frauen seiner Söhne aus Eifersucht töten lassen. Nun wollte er die letzte Frau seines jüngsten Sohnes heiraten. Er hat mich selbst zu seinem Nachfolger ernannt. Tötet den Juden, der mir die Augen ausstach; bestraft die sechs Weisen, die so schlechten Rat gaben und belohnt den, der bei der Wahrheit blieb."

Der Bursche ging hinüber in das Haus seiner jungen, schönen Frau.

3. Odyssade

Ein kleiner Knabe war bei seinem Onkel (= chali; Plural: chuali ist stets Mutterbruder; der Onkel väterlicherseits heißt änimi; das Wort animi wird von den französisch sprechenden Kaby- len mit cousin übersetzt, was auf seine Anwendungsausdehnung schließen läßt; im übrigen heißt der Sohn des animi, also der rich- tige Vetter, mis-animi). Das Haus des Onkels war von dem seiner Mutter nur wenig entfernt. Die Nacht war nicht fern. Es regnete. Der Onkel sagte zu dem Knaben: ,, Bleibe bei mir zum Abendessen, nachher bringe ich dich nach Hause." Der Knabe sagte: ,,Ich will nicht hier bleiben, ich bin zu fremd hier." Der Onkel sagte: ,,Du bist bei deinem Onkel und zwei Schritte entfernt von deinem Hause. Du sagst, du seist zu fremd hier. Du weißt nicht, was die Fremde (= l'röbe) ist. Ich will dir deshalb erzählen, wie es ist, wenn man in der wahren Fremde reist." Der Onkel erzählte:

Es waren 76; ich war der siebenundsiebzigste. Wir waren auf Reisen. Wir wanderten Tag und Nacht. Wir reisten bis zum äußersten. Wir haben herrliche Ebenen durchwandert. Nach

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langem Wandern kamen wir an ein großes Meer. Wir waren, als wir an das Meer kamen, schon sieben Jahre auf Reisen.

Auf dem Ufer bauten wir aus Brettern (= sfina; Plural: sfines) eine große Fläche (also ein Floß). Alle 77 stiegen darauf. Wir fuhren hinaus. Wir konnten keine Richtung sehen. Wir sahen nur Wasser und Himmel. So schwammen wir vier Jahre ohne (ge- nügendes) Essen und Trinken. Nach vier Jahren zerbrachen die Planken (das Floß). Die meisten wurden mit den Brettern weg- gerissen und gingen unter. Nur ein Rest der gebundenen Bretter blieb über Wasser. Es waren sechs Mann darauf. Ich war der siebente. Wir fuhren weiter.

Eines Tages kam der große Vogel Ichidr (Plural: ihuder, wird als Strauß erklärt; einige sagen, es sei ein großer Adler). Ichidr packte einen von uns, zog ihn empor und trug ihn fort. Am andern Tage kam Ichidr wieder und trug einen fort. Er trug einen nach dem andern fort. Am siebenten Tage war ich nur noch allein übrig. Da kam Ichidr am siebenten Tage, packte mich, trug mich empor und hinweg über das Meer. Ichidr flog mit mir sehr schnell und sehr weit.

Ichidr flog, bis er an einige riesenhohe Felsen kam. Auf die Spitze dieser Felsen flog er nieder und setzte mich dann in sein Nest, in dem seine Jungen waren. Die Jungen schliefen. Der Ichidr flog wieder fort. Ich sagte mir: ,,Du bist hier als Nahrung für die Jungen des Ichidr. Jetzt schlafen sie." Darauf tötete ich die Jungen des Ichidr. Dann stieg ich auf den Rand des Nestes und sah mich um. Der Felsen war ungeheuer hoch. Es lagen aber viele Haare von Frauen herum, die von den Jungen des Ichidr verzehrt waren. Ich band die Haare zusammen und machte ein Tau. Das Tau aus Frauenhaar band ich an einer Felsenspitze fest. Ich fing an, mich langsam und vorsichtig an dem Tau herabzulassen. Ich war schon ein ganzes Stück weiter, da blickte ich einmal zurück. Ich sah, daß mir eine siebenköpfige Schlange ( = lef 'ha, die Hydra) folgte. Ich erschrak. Ich beschloß, lieber auf der Erde zu sterben, als in der Luft aufgefressen zu werden. Ich schnitt den Strick durch. Ich stürzte. Ich kam auf die Erde.

Auf der Erde fiel ich gerade vor der Höhle ( = l'hrar) einer Löwin nieder. Ich hatte mir die Arme und Beine gebrochen. Ich kroch auf Händen und Füßen in die Höhle. In der Höhle waren nur die Jungen. Ich versteckte mich zwischen den Jungen. Nach einiger Zeit kam die Löwin nach Hause. Die Löwin legte sich nieder. Die

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Jungen der Löwin drängten sich an ihre Brust und tranken. Ich drängte mich auch heran. Ich trank auch von der Brust der Löwin. Einmal wandte die Löwin den Kopf. Sie sah mich. Sie brüllte und schrie: ,,Eiri Mensch! Wenn du nicht von meiner Milch getrunken hättest, würde ich dich verschlingen. Da du aber von meiner Milch getrunken hast, will ich dich beschützen.** Die Löwin brachte mir alle Tage Essen. Die Löwin pflegte meine zerbrochenen Glieder. Meine Wunden heilten. Ich wurde wieder gesund und konnte gehen. Als ich wieder stark war, bat ich die Löwin um die Erlaub- nis weiterzuziehen. Die Löwin erlaubte es mir.

Ich nahm von der Löwin Abschied und wanderte von dannen. Ich wanderte weiter. Ich traf unterwegs sechs Männer. Ich war der siebente. Wir sieben gingen zusammen weiter. Wir gingen weit weg zusammen. Eines Tages begegneten wir aber einem Wuarssen, der war riesengroß und hatte nur ein Auge auf dem Kopfe. (Der kabylische Name für den Zyklopen ist thiet' de kuoro, d. h. thiet' = Auge, de = seines; kuoro = Kopfes. Die Zyklopen haben nach kabylischer Ansicht das Auge sehr hoch auf der Stirne.) Der Wuarssen hütete seine Schafe. Meine sechs Kameraden sagten zum Wuarssen: ,,Wo können wir diese Nacht bleiben?** Der Wuarssen sagte: ,, Kommt, schlaft bei mir.** Ich erschrak hierüber. Die sechs Kameraden sagten: ,,Es ist gut, wir werden bei dir schla- fen.** Ich erschrak noch mehr. Aber ich konnte nicht wider- sprechen; hätte ich als einziger widersprochen, so hätte der Wuars- sen mich sogleich verschlungen. Ich schwieg.

Der Wuarssen zeigte uns den Weg in seine Höhle (l'hrar). Wir kamen bei der Höhle an. Der Wuarssen schob einen großen Stein mit der Kraft von 99 Leuten beiseite. Das war die Tür seiner Woh- nung. Der Wuarssen trieb seine sämtlichen Schafe in die Höhle. Er ließ uns auch eintreten. Als wir in der Höhle waren, schob der Wuarssen wieder den Stein vor den Eingang. Die Wohnung war verschlossen. Der Wuarssen schlachtete dann einen Hammel und setzte uns gutes Essen vor. Wir aßen gut und viel. Dann legten wir uns hin und schliefen auch bald ein, denn wir waren müde. Als es Mitternacht war, erhob sich der Wuarssen. Er kam vorsichtig heran und sah, ob wir schliefen. Dann nahm er eine Eisenstange und machte sie im Feuer glühend. Mit der glühenden Eisenstange stach er in den meiner Kameraden, der ihm am nächsten lag, hinein. Er stach mit dem glühenden Eisen so lange hinein, bis der Mann geröstet und gar war. Dann fraß der Wuarssen den Mann.

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Am andern Morgen rüstete der Wuarssen zum Weggehen. Ich sagte zu meinen Kameraden: ,,Wir wollen den Wuarssen bitten, daß er uns erlaubt weiterzugehen." Die andern fünf sagten: „Nein, wir wollen hier bleiben. Hier haben wir wenigstens zu essen." Ich sagte: ,,Seht, gestern waren wir noch sieben, heute sind wir nur noch sechs!" Die andern sagten: ,, Der eine Fehlende ist vielleicht über Nacht weggelaufen." Ich sagte: ,, Glaubt mir doch, daß der Wuars- sen ihn gefressen hat." Die andern sagten: ,,Wir bleiben." Der Wuarssen öffnete die Höhle, trieb seine Herde heraus und schob dann von außen den Stein mit der Kraft von 99 Männern wieder vor den Eingang. Als es Nacht wurde, kam er wieder, öffnete die Höhle, trieb die Schafe hinein und schloß hinter sich. In der Nacht fraß er wieder einen von meinen Kameraden.

So fraß der Wuarssen jede Nacht einen meiner Kameraden. Am siebenten Tage war ich nur noch ganz allein übrig. Als es Nacht wurde und wir gegessen hatten, sagte ich zu dem Wuarssen: ,,Wir wollen uns heute unterhalten. Wir wollen uns eine Geschichte er- zählen. Soll ich erzählen, oder willst du erzählen?" Der Wuarssen sagte: ,, Erzähle du! Wenn ich darüber einschlafe, mach du mit mir, was du willst. Wenn du darüber einschläfst, werde ich mit dir machen, was ich will." Ich begann nun eine lange Geschichte zu erzählen. Ich erzählte und erzählte und erzählte. Der Wuarssen wurde immer müder. Als es Mitternacht war, war er so müde, daß er einschlief.

Ich erhob mich. Ich machte die Eisenstange ganz heiß. Ich machte sie glühend. Als sie glühend war, näherte ich mich dem schlafenden Wuarssen und bohrte die glühende Stange ihm in das eine Auge. Es machte: tschuch-tschuk (d. i. das Aufzischen). Der Wuarssen sprang auf. Der V/uarssen brüllte laut. Der Wuarssen rannte in der Höhle umher und zerschlug alle Töpfe und Krüge. Ich rannte vor ihm weg und versteckte mich in den Winkeln. Er rannte und schlug bald hierhin, bald dorthin. Ich sprang umher und versteckte mich dort und hier. So jagte er brüllend nach mir bis zum andern Morgen.

Am Morgen beruhigte sich der Wuarssen etwas. Ich nahm nun einen der schwarzen Widder, tötete und häutete ihn. Den Kopf des Widders legte ich auf meinen Kopf und schlang die Haut des Widders um mich. Nachher der Wuarssen. Ich schlich mich heran und auch von einer Schüssel. Als er es merkte, schlug er nach mir. Ich sprang zur Seite. So lebten wir zwei Tage lang neben-

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einander in der Höhle. Der Wuarssen hörte nicht auf mich zu ver- folgen.

Nach zwei Tagen sagte der Wuarssen: ,,Die Schafe haben zwei Tage lang nichts zu fressen bekommen. Es wird Zeit, daß sie fressen. Sie müssen auf die Weide. Aber ich werde wohl darauf achten, daß nur meine Schafe herauskommen." Der Wuarssen rückte den Felsblock mit der Kraft von 99 Männern zur Seite. Dann setzte er sich in den Eingang und sagte: ,, Kommt heraus, ihr Schafe. Ich will euch der Reihe nach befühlen. Und welches keine Wolle hat, das werde ich verschlingen."

Die Schafe drängten heraus. Ich drängte mich an ihre Spitze. Ich ging auf den Knien, hielt den Widderkopf vor mir mit den Händen und hielt das Widderfell dicht um mich geknotet. Ich kam an der Spitze der Schafe an ihm vorbei. Er befühlte mit der Hand den Kopf und strich mit der Hand über meinen Rücken hin. Er ließ mich vorüber. Als ich mit den Schafen draußen war, nahm ich den Kopf des Widders und warf ihn dem Wuarssen zu. Ich rief: ,,Hier hast du den Kopf deines schwarzen Widders." Der Wuarssen schrie vor Wut. Ich ließ den Wuarssen in seiner Höhle.

Ich trieb die Schafherde des Wuarssen vor mir her. Ich ließ sie weiden und trieb sie den ganzen Tag vor mir her. Abends kam ich in einen Wald. In dem Wald legte ich mich inmitten meiner Schafe zum Schlafen nieder. Um Mitternacht kamen sechs Räuber den Weg entlang. Sie kamen in den Wald und sahen meine Schafe. Sie weckten die Herde und trieben sie mit sich fort. Einer wandte sich um und sah nach der Stelle, wo ich lag, zurück. Er sagte: ,,Da liegt noch etwas Weißes." Die Räuber kehrten zurück und fanden mich. Sie nahmen mich mit sich.

Die Räuber kamen mit meiner Herde und mir an einem Dorf vorüber. Die Räuber gingen an dem Ort vorüber. Es begegnete uns ein Mann aus dem Dorfe, der weinte und klagte. Wir fragten den Mann: ,, Warum weinst du?" Der Mann sagte: ,,Wir haben hier eine Hydra (levha), die lebt an der Quelle, aus der wir unser Was- ser holen. Die Hydra läßt uns aber kein Wasser nehmen, wenn wir ihr nicht täglich eine unserer jungen Töchter geben. Das geht der Reihe nach in den Familien um. Heute ist nun meine Familie an der Reihe, und ich muß ihr meine Tochter geben." Die sechs Räuber sagten: ,,Wir wollen dir diesen Mann hier geben, vielleicht kann er dir helfen. Willst du den Mann kaufen?" Der Mann kaufte mich und nahm mich mit sich nach Hause.

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Als wir zu Hause angekommen waren, fragte mich der Mann: ,, Kannst du mir helfen?" Ich sagte: „Diese Hydra hat das ganze Dorf vernichtet. Nun wollen wir die Hydra vernichten. Ich will dich über und über mit Honig bestreichen. Die Hydra wird dich ganz und gar ablecken und darüber vergessen, deine Tochter zu nehmen." Der Mann sagte: ,,So wollen wir es machen. Du und meine Tochter, ihr könnt mich zur Quelle begleiten." Ich be- strich den Mann dann über und über mit Honig. Es blieb aber auf dem Nacken ( = amgurr) eine Stelle von der Größe eines Duro frei vom Honig. Dann ging der Mann mit seiner Tochter und mir zur Quelle.

Wir kamen an die Quelle. Die Hydra stürzte, als sie uns sah, so- gleich auf uns. Sie witterte den Honig. Sie begann an dem Honig, mit dem der Mann bedeckt war, zu lecken. Die Hydra leckte den ganzen Honig ab. Sie kam an die Stelle, die nicht mit Honig be- deckt war. Die Hydra begann an der Stelle zu schlürfen ( = tsum). Sie schlürfte von der Stelle am Nacken das Innere des Mannes aus. Sie schlürfte alle seine Eingeweide, das Blut und das Fleisch aus. Es blieb nur die Haut übrig. Die Haut fiel wie ein Sack hin. Dann war die Hydra satt und wandte sich ab. Ich nahm das Mäd- chen mit fort.

Wir gingen ein Stück. Da begegnete uns ein Esel, der mit einem leeren Doppelsack (aus Schilf, in einem Stück geflochten = asimbi) versehen war. Wir setzten uns jeder auf eine Seite. Wir ritten auf dem Esel weiter. Wir ritten, bis es Nacht wurde. Als es Nacht war, trug uns der Esel weiter. Aber wir schliefen ein. Ich war schwerer als das Mädchen. Ich zog mit meinem Gewicht meine Seite her- unter. Ich fiel herab. Das Mädchen fiel auch herab. Wir waren aber so müde, daß wir nicht aufwachten, sondern, auf der Straße liegend, weiterschliefen. Der Esel ging ohne uns weiter.

Gegen Morgen kam ein Löwe. Er begann das Mädchen aufzu- fressen. Er begann an den Füßen und fraß es bis zur Hüfte. Als er soweit war, kamen sechs Agelith des Weges. Der Löwe er- schrak darüber und lief weg in den Wald. Die sechs Agelith kamen zu uns heran. Sie sahen das halb aufgefressene Mädchen. Sie sagten zu mir: ,,Du hast die Hälfte des Mädchens gefressen. Wir werden dich zu dem großen Agelith führen. Der soll darüber ent- scheiden, ob dir der Kopf abgeschlagen werden soll." Ich wurde zu dem großen Agelith geführt. Der große Agelith ließ mich in ein Haus einschließen. Ich war gefangen. Am Abend wurde mein

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Haus geöffnet, und ich durfte in dem großen Garten spazieren gehen.

Alle Tage wurde ich eingeschlossen, und nur abends durfte ich im Garten spazieren gehen. Eines Tages sah ich, daß der Garten an einer Stelle nur eine niedrige Mauer hatte. Ich sprang über die Mauer und rannte von dannen. Ich lief, bis ich nach Hause kam.

Sieh, mein Neffe, das ist eine Reise in die Fremde. Das ist die Fremde.

Als der Onkel geendet hatte, sagte der Knabe: ,, Onkel, ich gehe ^ nachher allein in der Nacht nach Hause. Du brauchst mich nicht zu begleiten. Ich weiß jetzt, was die Fremde ist."

NB. Nach einer anderen Version war der Knabe nach Anhören der Geschichte für mehrere Monate krank.

4. Die Wuarssentochter

Ein Mann hatte einen einzigen Sohn. Der Sohn war klug und sehr geschickt in allem. Er zeigte das aber nicht auf eine ver- nünftige Art. Der Sohn wuchs heran, und als er groß geworden war, tat er nichts anderes, als sich mit schlechten Burschen herum- zutreiben und das Vermögen seines Vaters zu verbringen. Der Vater wollte zuletzt den Sohn verjagen. Die Mutter war aber hierfür nicht zu gewinnen. Die Mutter sagte: ,,Hab' Geduld, dein Sohn ist klug. Er wird anders werden."

Eines Tages sprach der Bursche mit der Negerin seines Vaters. Die Negerin sagte: ,,Du weißt, daß wir in diesem Ort einen sehr schlechten Agelith haben, mit dem alle Leute unzufrieden sind. Er ist geizig und teilt nicht mit den Leuten. Wenn ein anderer ange- sehener und wohlhabender Mann im Ort wäre, würden die Leute diesen Agelith schon längst verjagt und den anderen angesehenen und wohlhabenden Mann an seine Stelle gesetzt haben. Dein Vater ist angesehen genug. Aber er ist nicht nur nicht sehr wohlhabend, sondern du, sein Sohn, verbringst auch noch in schlechter Ge- sellschaft alles, was er hat. Du bist nun aber so klug, daß du sehr wohl imstande wärst, statt deinem Vater das Geld zu verbringen, ihn zu einem reichen Manne und somit zum Agelith zu machen. Wenn du ein Mann wärst, würdest du das tun."

Der Sohn hörte das mit an. Dann sagte er zu der Negerin: ,,Ich

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schwöre, daß ich mich so bald wie möglich auf den Weg machen will. Ich will nicht eher heimkommen, bis ich meinem Vater alles Geld, was ich durchbrachte, zurückgebracht habe, sondern ihn auch so reich machen kann, daß er Agelith wird." Der Sohn ging nach Hause und sagte zu seiner Mutter: ,, Bereite mir Essen: ich will eine lange Wanderung unternehmen." Die Mutter tat es.

Am andern Tage machte der Bursche sich auf den Weg. Er wan- f-\ derte. Er wanderte weit weg, so weit, daß er zuletzt in ein anderes Land kam, in dem nur Wuarssen lebten. Eines Tages traf er im Walde den Agelith der Wuarssen. Der Agelith der Wuarssen sagte zu ihm: ,, Komme mit mir in mein Haus." Der Bursche ging mit und kam in das Haus des Wuarssen.

Der Wuarssen hatte daheim eine Frau und drei Töchter. Die jüngste dieser Töchter war sehr klug. Wenn sie einen Ratschlag vonnöten hatte, so brauchte sie nur den Nagel ihres kleinen Fingers zu befragen; der gab ihr Auskunft und Hilfe. Die Frau des Wuarssen war aber noch klüger als ihre jüngste Tochter. Sie konnte nämlich von allen Fingernägeln Hilfe und Ratschlag erlangen. Als der Bursche in das Haus des Wuarssen trat, sah er die jüngste Tochter. Er sah, daß sie sehr schön war. Der Bursche sagte bei sich: ,, Dieses Mädchen möchte ich heiraten." Die Jüngste sah den Burschen. Sie sagte bei sich: ,, Diesen soll mein Vater nicht verschlingen, den will ich für mich haben."

Der Wuarssen brachte den Burschen in das Haus und suchte nach einem Grunde ihn zu verschlingen. Der Wuarssen wollte (oder ,, konnte" nach einer zweiten Wiederholung) ihn nicht ver- schlingen ohne eine gute Begründung.

Am andern Tage sagte der Wuarssen: ,,Komm mit mir zur Ar- beit in die Farm." Der Bursche folgte ihm. Der Wuarssen führte den Burschen auf ein Gebiet, in welchem alles voller Unterholz stand. Er gab dem Burschen Fruchtsamen und sagte zu ihm: ,, Be- pflanze diesen Acker mit diesem Fruchtsamen. Beginne die Arbeit sogleich. Denn heute abend will ich schon die ersten Früchte ge- nießen." Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.

Der Bursche begann ein wenig mit der Hacke das Unterholz weg- zuschlagen. Er war aber bald müde, legte sich unter einen Baum und schlief ein. Als es Mittag war, sagte der Wuarssen: ,,Eine von meinen Töchtern soll dem Burschen das Essen auf das Feld brin- gen." Die älteste und die zweite Tochter des Wuarssen sagten: ,,Ich

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mag nicht." Die jüngste Tochter sagte: „Dann will ich es tun." Die jüngste Tochter sah auf ihren Fingernagel und erkannte, daß der Vater vorhabe, den Burschen am Abend zu töten. Sie sah, daß der Wuarssen dem Burschen den Auftrag gegeben hatte, am Mor- gen Fruchtsamen zu pflanzen, der bis zum Abend aufgehen, auf- wachsen und Früchte tragen sollte.

Im Hause des Wuarssen war ein Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen konnte. Die jüngste Tochter nahm das Essen für den Burschen, aber sie ergriff auch den Stock. Mit dem Essen und dem Stock machte sie sich auf den Weg in den wilden Garten. Als sie dort ankam, suchte sie überall nach dem Burschen. Sie fand ihn aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im Schatten eines Baumes.

Die Jüngste weckte ihn und sagte: ,,Komm und !" Der Bursche wachte auf und sagte: ,,Das ist schon ganz recht, aber soll ich mich denn noch fetter machen. Dein Vater hat mir den Auftrag gegeben, Fruchtsamen hier zu pflanzen, der bis heute abend keimen, a.ui- wachsen und Früchte tragen soll, die er heute noch genießen will. Das ist nicht möglich. Kein Mensch kann das. Also will dein Vater damit nur einen Grund finden, um mich zu verschlingen. Und du bringst mir nun das Essen, damit ich noch etwas fetter werde."

Die Jüngste lachte und sagte: ,, Glaubst du, daß ich meinem Vater hierbei helfen will? Glaubst du, daß ich mir die Mühe gemacht hätte, dir dein Essen zu bringen, wenn ich nicht gerne bei dir wäre ? nur. Nach dem Essen wollen wir uns vergnügen, und dann wird uns schon der Nagel meines kleinen Fingers helfen." Der Bursche mit der Jüngsten zusammen. Nach dem Essen vergnügten sie sich miteinander. Dann erhob sich das Mädchen und ergriff den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen konnte.

Die Jüngste stieß den Stock auf den Boden und sagte: ,, Sogleich soll dieser ganze Garten voller Blumen und Bäume stehen. So- gleich sollen diese Bäume voller Früchte hängen." Als die Jüngste ausgesprochen hatte, war der ganze Garten voller Blumen und Früchte tragender Bäume. Die Jüngste sagte aber zu dem Bur- schen: ,,Wenn es Abend wird, sammle einen Korb frischer Früchte. Bringe die meinem Vater in das Haus. Sage zu ihm: ,Hier sind deine reifen Früchte.* Gleichzeitig gib meinem Vater aber einen starken Schlag ins Gesicht." Der Bursche sagte: ,,So will ich es machen." Die Jüngste nahm Abschied und ging wieder nach Hause.

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Als es Abend war, sammelte der Bursche seine Früchte in einen Korb. Den Korb nahm er auf die Schulter und ging heim. Der Wuarssen sah den Burschen kommen und ging ihm entgegen. Der Bursche gab ihm die Früchte und sagte: ,,Hier sind deine reifen Früchte." Dann gab der Bursche dem Wuarssen einen Schlag ins Gesicht. Der Wuarssen sagte: ,,Dies hast du gekonnt." Der Bursche sagte: „Du glaubst klüger zu sein als ich! Warte das Ende ab!"

Der Wuarssen ging zu seiner Frau und sagte: ,,Ich habe dem Burschen den Auftrag gegeben, Fruchtsamen zu pflanzen, von dem ich am gleichen Abend noch die Früchte essen wollte. Der Bursche hat es wirklich gekonnt. Was kann ich nun tun, um ihn zu über- winden. Sage mir einen Auftrag, den er nicht ausführen kann." Die Frau des Wuarssen sagte: ,,Gib ihm ein Sieb, fordere von ihm, daß er mit dem Sieb das Wasser aus dem Meer in einen Brunnen schöpft, so daß der Meeresboden frei liegt. Vom trockenen Meeres- boden soll er dir heute abend trockenen Sand bringen."

Am andern Morgen nahm der Wuarssen ein Sieb und sagte zu dem Burschen: ,,Komm mit mir an das Meer. Der Bursche ging mit dem Wuarssen an das Meer. Am Meer sagte der Wuarssen zu dem Burschen: ,, Schöpfe mir bis heute abend das Meer aus und in einen Brunnen, so daß der Meeresboden frei liegt. Heute abend bringe mir dann von dem trockenen Meeresboden trockenen Sand." Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.

Der Bursche begann ein wenig mit dem Sieb zu schöpfen. Er sah aber gleich ein, daß er damit nicht weit kommen werde. Er war deshalb sehr bald müde, sah sich nach einem Baum um, setzte sich in den Schatten nieder und schlief ein. Als es Mittag war, sagte der Wuarssen: ,,Eine von meinen Töchtern soll dem Burschen das Essen auf das Feld bringen." Die älteste und die zweite Tochter des Wuarssen sagten: ,,Ich mag nicht." Die jüngste Tochter sagte: ,,Dann will ich es tun." Die jüngste Tochter sah auf ihren Finger- nagel und erkannte, daß der Vater vorhabe, den Burschen am Abend zu töten. Sie sah, daß der Wuarssen dem Burschen den Auf- trag gegeben hatte, bis zum Abend mit einem Siebe alles Wasser aus dem Meer in einen Brunnen zu schöpfen, so daß der Meeres- boden frei werde und vom trockenen Meeresboden trockenen Sand zu bringen.

Die Jüngste nahm das Essen und ergriff den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen konnte. Mit dem Essen und mit dem

3 Frobenlus, Atlantis II. Band 33

Stock machte sie sich auf den Weg zum Ufer des Meeres. Als sie dort ankam, suchte sie überall nach dem Burschen. Sie fand ihn aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im Schatten eines Baumes.

Die Jüngste weckte ihn und sagte: „Komm und !" Der Bursche wachte auf und sagte: „Das ist schon ganz recht, aber ehe ich mich fetter esse, mußt du wissen, daß dein Vater mich heute abend ver- schlingen will und mir durch dich nur deshalb das Essen schickt, daß ich bis dahin nicht abmagere. Er hat mir den Auftrag gegeben, mit diesem Sieb alles Wasser aus dem Meere in einen Brunnen zu schöpfen, so daß der Meeresboden frei liegt. Ich soll ihm bis zum Abend trockenen Sand vom trockenen Meeresboden bringen. Sage mir, wie ich das machen kann. Ich nehme an, daß du mich noch gerne hast und mir helfen willst."

Die Jüngste lachte und sagte: ,,Wenn es weiter nichts ist, so wollen wir nun ungestört essen. Nach dem Essen wollen wir uns wie gestern vergnügen, und dann wird uns der Nagel meines kleinen Fingers helfen." Der Bursche mit der Jüngsten zusammen. Nach dem Essen vergnügten sie sich miteinander. Dann erhob sich das Mädchen und ergriff den Stock, mit dessen Hilfe man alles er- reichen konnte.

Die Jüngste stieß den Stock auf den Boden und sagte: ,,Ich stoße das Meer mit meinem Stock zurück!" Sogleich wich das Meer zu- rück. Der Boden des Meeres lag frei da. Das Mädchen nahm von dem trockenen Meeresboden trockenen Sand und gab ihn dem Bur- schen. Die Jüngste sagte: ,,Nimm diesen Sand. Wenn es Abend wird, bring diesen Sand nach Hause. Du wirst meinen Vater neben meiner Mutter vor dem Hause sitzen sehen. Gehe auf meinen Vater zu und schütte den Sand meinem Vater auf den Kopf. Sage zu meinem Vater: ,Hier hast du den trockenen Sand vom trockenen Boden des Meeres.* Dann gehe unbekümmert in das Haus." Der Bursche sagte: ,,So will ich es machen." Die Jüngste nahm Abschied und ging wieder nach Hause.

Als es Abend war, nahm der Bursche den trockenen Sand vom trockenen Meeresboden und ging heim. Als er an das Haus kam, sah er den Wuarssen neben seiner Frau sitzen. Er ging auf den Wuarssen zu, schüttete den Sand über den Kopf des Wuarssen und sagte: ,,Hier hast du den trockenen Sand vom trockenen Boden des Meeres." Dann ging der Bursche unbekümmert in das Haus.

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Der Wuarssen sagte zu seiner Frau: ,,Du siehst, der Bursche hat auch diesen Auftrag richtig ausgeführt. Was kann ich jetzt tun, ihn zu überwinden? Sage mir einen Auftrag, den er nicht aus- führen kann." Die Frau des Wuarssen sah auf die Nägel ihrer Finger und sagte: ,,Der Bursche hat deine beiden Aufträge aus- geführt mit dem Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen kann. Ich werde diesen Stock an mich nehmen und so verwahren, daß niemand ihn nehmen kann. Fordere von dem Burschen morgen, daß er von dem hohen Felsen, auf dem der Adler nistet, dessen Nest mit den sieben Jungen herabhebe und sie dir zum Abend bringe. Wenn der Bursche den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen kann, nicht hat, wird er dies nicht ausführen können."

Am andern Morgen rief der Wuarssen den Burschen und sagte zu ihm: ,,Komm mit mir zu dem Felsen!" Der Bursche ging mit dem Wuarssen zu dem Felsen. An dem Felsen sagte der Wuarssen zu dem Burschen: ,,Du siehst dort oben den Adler nisten! Bring mir das Nest des Adlers mit seinen sieben Jungen herab. Bringe es mir bis zum Abend." Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.

Der Bursche betrachtete den Felsen. Er ging um ihn herum. Er sah, daß er keinen Aufstieg fand. Er war des Suchens bald müde, sah sich nach einem Baume um, legte sich in dessen Schatten nieder und schlief bald ein. Als es Mittag war, sagte der Wuarssen: ,,Eine von meinen Töchtern soll dem Burschen das Essen auf das Feld bringen." Die älteste und die zweite Tochter sagten: ,,Ich mag nicht!" Die jüngste Tochter sagte: ,,Dann will ich es tun." Die jüngste Tochter sah auf ihren Fingernagel und erkannte, daß der Vater vorhabe, den Burschen am Abend zu töten. Sie sah, daß der Wuarssen dem Burschen den Auftrag gegeben hatte, von dem hohen Felsen das Nest des Adlers und seine sieben Jungen herabzuholen und am Abend dem Wuarssen zu geben.

Die Jüngste nahm das Essen. Sie wollte den Stock ergreifen, mit dessen Hilfe man alles erreichen kann. Sie fand den Stock nicht. Sie suchte den Stock. Sie sagte sich: ,, Meine Mutter ist klug. Sie hat auf ihre Nägel gesehen und erkannt, daß der Bursche seine Auf- gaben mit Hilfe des Stockes, mit dem man alles erreichen kann, aus- geführt hat, sie hat den Stock verschlossen. Meine Mutter hat aber noch nicht gesehen, daß ich dem Burschen geholfen habe. Ich muß also etwas anderes ersinnen." Die Jüngste nahm das Essen und machte sich auf den Weg. Sie kam zu dem Felsen, auf dessen Spitze der Adler sein Nest hatte. Sie suchte überall nach dem Burschen;

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sie fand ihn aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im Schatten eines Baumes.

Die Jüngste weckte den Burschen und sagte: ,,Komm und iß!" Der Bursche wachte auf und sagte: ,,Das ist schon ganz recht; ich freue mich darauf, mit dir zu essen, und ich freue mich noch mehr darauf, mich nachher mit dir zu vergnügen. Ich habe aber von deinem Vater den Auftrag erhalten, auf diesen hohen Felsen zu steigen, auf dem der Adler sein Nest hat und das Nest mit den sieben Jungen herabzuholen. Ich soll es schon heute abend bringen. Wenn ich es nicht bringe, wird er mich verschlingen. Hast du nun ein Mittel, diesen Felsen zu besteigen und das Nest herunter- zuholen?"

Die Jüngste sagte: ,,Das ist nicht so schlimm. Wir können un- gestört essen. Nach dem Essen wollen wir uns wie gestern und vor- gestern vergnügen, und dann wird uns schon der Nagel meines kleinen Fingers helfen." Der Bursche mit der Jüngsten zu- sammen. Nach dem Essen vergnügten sie sich miteinander. Dann erhob sich die Jüngste.

Die Jüngste sagte zu dem Burschen: ,,Wir haben es heute nicht ganz so einfach wie sonst, weil meine Mutter den Stock, mit dem man alles erreichen kann, verschlossen hat. Nimm hier dies Messer und diesen Duft (Wohlgeruch). Mit dem Messer zerschneide mich. Meine einzelnen Teile werden am Felsen festkleben, und du wirst an mir bequem hinaufsteigen können. Du wirst das Nest des Adlers mit den sieben Jungen herabtragen können. Wenn du wieder herabsteigst, nimmst du die einzelnen Teile von mir wieder mit herab. Unten setzt du alle Teile wieder zusammen, und wenn alles wieder zusammengesetzt ist, blase mit diesen Duft in die Nase. Dann werde ich wieder leben wie zuvor. Hast du mich gut verstanden und wirst du so handeln ?" Der Bursche sagte: ,, Ich habe dich verstan- den und werde danach handeln."

Der Bursche nahm das Messer. Er zerschnitt die Jüngste in Stücke. Die einzelnen Stücke klebte er an den Felsen. Sie klebten sehr fest. Der Bursche stieg nun mit ihrer Hilfe zu dem Felsen empor. Er kam an das Nest des Adlers, in dem die sieben Jungen saßen. Der Bursche ergriff es und stieg wieder herab. Beim Herab- steigen nahm er die einzelnen Teile der Jüngsten vom Felsen ab und brachte sie wieder auf die Erde. Als er unten angekommen war, setzte er das Nest mit den sieben Jungen des Adlers beiseite und fügte die einzelnen Teile der Jüngsten wieder aneinander. Als er

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die einzelnen Teile wieder zusammengesetzt hatte, bließ er der Jüngsten den Duft in die Nase. Die Jüngste erhob sich. Sie lebte wieder.

Die Jüngste betrachtete sich und sagte: ,,Du hast alles richtig ge- macht. Du hast aber meine kleine Zehe an dem Felsen kleben lassen und vergessen, sie wieder mit herabzubringen. Nun fehlt sie mir. Aber das ist nur gut, dann wirst du mich nun immer wieder erkennen. Nun merke auf ! Bringe meinem Vater heute abend das Nest mit den sieben Jungen des Adlers. Mein Vater wird dir dann die Wahl lassen zwischen seinen drei Töchtern. Er wird uns dich aber nicht so vorführen, wie wir sind. Er wird uns als Rebhühner vorführen. Sieh dann auf die Füße. Die Zehe, die du oben am Felsen ließest, wird mir auch als Rebhuhn fehlen. Darauf achte." Der Bursche sagte: ,,So will ich es machen!" Die Jüngste nahm Abschied und ging wieder nach Hause.

Als es Abend war, nahm der Bursche das Nest mit den sieben Jungen des Adlers und ging heim. Als er den Wuarssen sah, gab er ihm das Nest mit den sieben Jungen und sagte: ,,Hier hast du das, was du wünschtest." Der Wuarssen ging zu seiner Frau und sagte: ,,Der Bursche hat auch diesen Auftrag ausgeführt. Was kann ich jetzt noch tun, um ihn zu überwinden?" Die Frau sah auf die Fingernägel und sagte: ,,So gib ihm eine deiner Töchter zur Frau. Wenn er eine deiner beiden älteren wählt, wird diese dir ihn gleich geben. Und wenn er wirklich die jüngste nimmt, kannst du ihn doch immer in der Hochzeitsnacht verschlingen."

Der Wuarssen sagte zu dem Burschen: ,,Du hast alle drei Auf- träge gut ausgeführt. Zum Lohn hierfür wähle dir eine unter mei- nen drei Töchtern zur Frau." Der Wuarssen führte die drei Mäd- chen als Rebhühner vor. Er hing dem Burschen ein schwarzes Tuch über den Kopf. Der Bursche sah unter dem schwarzen Tuch weg auf die Füße der Rebhühner und erkannte die Jüngste an der fehlenden Zehe. Er ergriff das Rebhuhn bei den Füßen und sagte: ,, Diese hier möchte ich zur Frau haben." Der Wuarssen sagte: „Nimm doch nicht die, die ist ja häßlich! Nimm die andere!" Der Bursche sagte: ,,Nein, diese hier will ich haben." Da gab der Wuarssen dem Burschen die Jüngste zur Frau.

Der Wuarssen gab dem Burschen und seiner jungen Frau ein eigenes kleines Haus. Sie gingen hinüber. In der Nacht sagte die junge Frau zu dem Burschen: ,, Heute nacht wird mein Vater noch

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versuchen, dich zu verschlingen. Wir müssen fliehen. Gehe also hinüber zum Hause des Vaters und bringe ein Pferd herüber. Wähle aber unter den Pferden ja nicht ein wohlgenährtes aus. Du mußt das magerste und elendeste unter den Pferden wählen, welches im Stalle ist. Nur dieses kann uns helfen." Der Bursche ging. Er kam in den Stall des Wuarssen. Er sah das ganz magere und elende Pferd. Er sagte: ,,Wie soll ich ein so schlechtes Pferd nehmen, wo hier so viel gute Pferde stehen?** Der Bursche nahm das beste Pferd, das er im Stalle fand und sagte: ,,Dies wird uns am schnell- sten auf der Flucht forthelfen.'* Er brachte das gute Pferd zu dem Hause, das ihm und seiner jungen Frau angewiesen war, hinüber. Als die jüngste Tochter des Wuarssen das Pferd sah, erschrak sie und sagte: ,, Warum hast du nicht meiner Anordnung gefolgt? Nun wird mein Vater uns einholen. Wir werden nun andere Mittel finden müssen, ihm zu entrinnen.** Der Bursche bestieg nun mit der Jüngsten das Pferd und ritt von dannen.

In der Nacht sagte der Wuarssen zu seiner Frau: ,,Ich will jetzt den Burschen töten und dann verschlingen.*' Der Wuarssen nahm große Felsblöcke und warf sie auf das Haus des Schwiegersohnes. Das Haus stürzte ein. Der Wuarssen ging hin und suchte den Burschen unter den Trümmern. Der Wuarssen fand den Burschen nicht. Er kam zu seiner Frau und sagte: ,,Der Bursche ist nicht zu finden.*' Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte zu dem Wuarssen: ,,Der Bursche ist mit seiner Frau, deiner jüngsten Toch- ter, auf einem deiner Pferde entflohen. Er hat aber nicht das beste Pferd gewählt, besteige du das beste Pferd und reite schnell hinter- her, so kannst du ihn noch einholen.**

Der Wuarssen bestieg das magerste Pferd und ritt schnell hinter dem Burschen und seiner jüngsten Tochter her. Er kam ganz nahe an sie heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: ,,Mein Vater ist ganz nahe!** Sie wusch ihren Fingernagel mit Wasser und sagte: ,,Das Pferd soll eine Hütte (= akabub), ich soll ein Garten mit Melonen, mein Mann soll ein alter Gärtner werden!** Sogleich war das Pferd eine Hütte, das Mädchen ein Garten mit Melonen, der Bursche ein alter Gärtner.

Der Wuarssen kam dicht heran. Er sah den alten Gärtner. Er fragte den alten Gärtner: ,,Hast du nicht in der Nähe einen jungen Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferd vorbeireiten sehen ?'* Der alte Gärtner sagte: ,,Das hängt davon ab, was du dafür bezahlen willst. Ich habe Melonen für ein Kupferstück und solche

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für zehn Kupferstücke." Der Wuarssen sagte: ,,Ich habe nicht nach dem Preise der Melonen gefragt. Ich fragte dich, ob du einen Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferde hier hast vor- beireiten sehen." Der alte Gärtner sagte: .,Ich wiederhole dir meine Preise. Ich habe Melonen für ein, zwei, drei bis zehn Kupferstücke. Das ist gewiß nicht teuer." Der Wuarssen sagte (ärgerlich): ,,Das ist ein Narr," Er wandte sein Pferd und ritt wieder nach Hause. Als er nur wenig fort wai, verwandelte die Jüngste das Pferd, sich und den Burschen wieder in ihre alte Gestalt. Der Bursche ritt mit ihr lustig weiter.

Der Wuarssen kam nach Hause. Seine Frau fragte ihn: ,,Hast du sie nicht eingeholt?" Der Wuarssen sagte: ,,Nein, ich konnte sie nicht einholen. Ein alter Gärtner, der in seinem Melonengarten vor einer Hütte stand, gab mir närrische Antworten. So verlor ich den Weg." Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte: ,,Der Garten war deine jüngste Tochter. Die Hütte war dein Pferd. Der alte Gärtner war der Bursche. Schnell reite zurück und sieh, ob du sie nicht doch noch erreichst." Der Wuarssen wandte das Pferd und ritt so schnell er konnte wieder hinter dem Burschen her.

Der Wuarssen kam wieder ganz nahe an den Burschen und an die Jüngste heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: ,,Mein Vater ist wieder ganz nahe." Sie wusch ihren Fingernagel mit Was- ser und sagte: ,,Das Pferd soll ein Weg, ich will ein Korb ( = akschu- ell; nach anderer Angabe ein Karren), mein Mann soll ein alter Arbeiter werden!" Sogleich wurde das Pferd ein Weg, die Jüngste ein Korb, der Bursche ein alter Arbeiter.

Der Wuarssen kam dicht heran. Er sah den alten Arbeiter. Er fragte den alten Arbeiter: ,,Hast du nicht in der Nähe einen Bur- schen mit einer jungen Frau vorbeireiten sehen?" Der alte Ar- beiter sagte: ,,Wenn du arbeiten willst, zahlt man dir hier einen Duro für die Woche; für brauchbare Leute zahlt man aber auch mehr." Der Wuarsssen sagte: „Ich habe nicht gefragt, ob ich hier als Arbeiter Arbeit finde und was man zahlt. Ich frage dich, ob du einen jungen Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferde hier hast vorbeireiten sehen." Der alte Arbeiter sagte: ,,Ich sagte dir schon, daß der Preis ganz nach der Arbeit ist. Bis zwei Duro. Ich finde, das ist gut bezahlt." Der Wuarssen sagte (ärgerlich) : ,,Das ist ein Narr." Er wandte sein Pferd und ritt wieder nach Hause. Als er nur wenig fort war, verwandelte die Jüngste das

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Pferd, sich und den Burschen wieder in ihre alte Gestalt. Der Bursche ritt mit ihr eilig weiter.

Der Wuarssen kam nach Hause. Seine Frau fragte ihn: ,,Hast du sie nicht eingeholt?" Der Wuarssen sagte: ,,Nein, ich konnte sie nicht einholen. Ein alter Arbeiter, der mit einem Korbe auf einem Wege stand, gab mir närrische Antworten. So verlor ich den Weg." Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte: ,,Der Weg war dein Pferd, der Korb war deine jüngste Tochter. Der alte Ar- beiter war der Bursche. Bleib nun hier. Ich werde mich nun selbst auf den Weg machen." Die Frau des Wuarssen machte sich nun selbst auf den Weg und eilte so schnell sie konnte hinter dem Bur- schen und der Jüngsten her.

Die Frau des Wuarssen kam ganz nahe an den Burschen und die Jüngste heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: ,, Meine Mutter verfolgt uns jetzt! Sie ist schon ganz nahe. Reite an das Ufer." Der Bursche ritt zur Seite an das Ufer des Meeres. Die Jüngste wusch ihren Fingernagel mit Wasser und sagte: ,,Das Pferd soll ein großes Brett im Meere sein!" Sogleich wurde das Pferd ein großes Brett, das im Meere schwamm. Der Bursche und die Jüngste sprangen in das Meer und auf das große Brett. Mit dem Brett schwammen sie vom Ufer weg auf das Meer hinaus.

Die Frau des Wuarssen kam ganz dicht an das Ufer des Meeres heran. Sie sah den Burschen mit der Jüngsten auf dem Brett im Meere schwimmen. Die Frau des Wuarssen rief: ,, Meine Tochter, willst du nicht mit mir in das Haus deines Vaters zu deinen Schwe- stern zurückkehren?" Die Jüngste antwortete: ,,Nein, meine Mut- ter; ich will bei meinem Manne bleiben." Die Frau des Wuarssen rief: ,,Du willst deine Mutter verlassen?" Die Jüngste rief: ,, Meine Mutter, ich will bei meinem Manne bleiben." Die Frau des Wuarssen rief: ,, Eines Tages wird dein Mann zu seinen Eltern zurückkehren wollen. Dann kann er dich leicht vergessen. Be- schwöre ihn, daß er sich von den Seinen nie küssen läßt. Das ist mein letztes Wort." Die Jüngste rief: ,,Ich danke dir, meine Mut- ter." Die Frau des Wuarssen kehrte in das Haus ihres Mannes zurück.

Während dreißig Tagen schwammen der Bursche und seine junge Frau mit dem Brett auf dem Meere umher. Am dreißigsten Tage schwammen sie an einen Felsen. Sie stiegen auf den Felsen an das Land. Auf dem Felsen fanden sie eine große Kiste ( = tachasent) , die das Meer herangeschwemmt hatte. Der Bursche öffnete die

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Kiste. Sie war angefüllt von Gold. Der Bursche sagte: ,,Nun bin ich reich. Ich habe dich und das Gold. Hier wollen wir wohnen." Die Jüngste sagte: ,,Gut, dann wollen wir hier wohnen." Sie wusch ihren Fingernagel und sagte: ,,Hier soll ein großes Haus stehen! Hier soll ein großer Garten sein! Hier sollen Bäume mit Früchten und Felder mit Korn aufwachsen." Sogleich stand ein großes Haus da, dahinter ein Garten mit Fruchtbäumen, dahinter lagen die Felder.

Der Bursche lebte mit seiner Frau in dem Lande voll Überfluß lange Zeit glücklich. Er dachte aber oft an seine Eltern und seinen Schwur und wurde traurig (= ichak). Die junge Frau sah, daß ihr Mann traurig wurde und sagte eines Tages zu ihm: ,,Ich sehe, daß du traurig bist; sage mir, was du hast." Der Bursche sagte: ,,Ich habe daheim Vater und Mutter. Als ich von Hause fortging, schwur ich, daß ich meinem Vater alles Geld, das ich früher unnütz ver- schwendete, ihm zurückerstatten und ihn so reich machen wolle, daß er Agelith würde. Nun bin ich inzwischen reich geworden und lebe im Überfluß. Meinen Schwur habe ich aber nicht gehalten, und das macht mich traurig." Die junge Frau sagte: ,,So kehre nach Hause zurück. Nimm alles mit, was dazu gehört, deinem Vater das Seine zurückzuerstatten und ihn so reich zu machen, daß er Agelith wird. Was du geschworen hast, sollst du halten. Wenn du weggehst, mußt du nun aber mir schwören, daß du mich nie vergessen willst. Du wirst mich aber vergessen, sobald dich eines deiner Familie auf die Stirne küßt. Darum schwöre mir, daß du dies nicht zulassen willst." Der Bursche schwor es.

Der Bursche packte Essen ein und so viel Gold, als nur möglich war. Er nahm von seiner jungen Frau Abschied und ritt von dannen. Er ritt auf seine Heimat zu. Er ritt sehr weit. Er kam in dem Ort, in dem seine Eltern lebten, an.

Der Bursche setzte sich bei einem Kaffeewirt nieder. Er blieb bei dem Kaffeewirt. Eines Tages kamen sein Vater und seine Mutter vorüber. Sie erkannten ihren Sohn nicht. Er erkannte aber seine Eltern. Der Bursche sagte zu seinen Eltern: ,, Kommt und trinkt mit mir eine Tasse Kaffee." Die beiden Eltern setzten sich neben ihn und sprachen mit ihm. Sie erkannten ihren Sohn nicht. Der Sohn ging beiseite und warf in jede der beiden Tassen ein Goldstück. Der Kaffeewirt brachte den Kaffee. Die Eltern tranken den Kaffee. Sie fanden auf dem Grunde die Goldstücke. Sie fragten

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erstaunt: „Woher kommt dies?" Der Sohn sagte: ,,Es ist offen- bar euer." Die Eltern bedankten sich und luden den Burschen zum Abendessen ein. Dann gingen sie. Die Mutter sagte zu dem Vater auf dem Heimweg: „Sollte das unser Sohn sein?" Der Vater sagte: „Unser Sohn war ein Verschwender; er kann sicher nur Geld verbrauchen, aber nicht geben."

Der Bursche kam in das Haus seiner Eltern. Die alte Negerin öffnete ihm. Die Negerin sah ihn an und erkannte ihn. Sie sagte aber nichts. Der Sohn mit seinen Eltern. Er ließ unter seinem Platz einen Sack mit Gold liegen, als er ging. Als er gegangen war, fanden die Eltern an seinem Platz das Gold. Der Vater sagte: ,,Was soll das?" Die Mutter sagte: ,, Glaube mir, das ist unser Sohn." Der Vater sagte: ,, Unser Sohn war ein Verschwender, er kann sicher nur Geld verbrauchen, aber nicht geben."

Auch die Negerin sah das Gold. Sie lief in den Ort. Sie ging zu den Leuten. Sie sagte: ,,Ihr wißt doch, daß ihr einen sehr schlechten Agelith habt, mit dem ihr alle unzufrieden seid?" Die Leute sagten: ,,So ist es!" Die Negerin sagte: „Ihr habt ihn doch bis jetzt nur deshalb nicht verjagt, weil ihr keinen anderen ange- sehenen und wohlhabenden Mann unter euch habt?" Die Leute sagten: ,,So ist es." Die Negerin sagte: „Der Sohn meines Herrn, den ihr alle kennt, ist heimgekehrt und hat seinem Vater eine große Menge Goldes mitgebracht." Die Leute sagten: ,,So schwöre uns dies!" Die Negerin schwor.

Da kamen alle Männer am andern Tage zusammen und gingen zu dem Hause des Agelith und riefen: ,,Wir haben von diesem geizigen Manne, der nie mit den andern teilt, genug!" Dann ver- jagten sie den Agelith. Hierauf zogen sie zu dem Hause des Vaters des Burschen und sagten: ,,Du sollst unser Agelith sein." Der Vater kam heraus. Er brachte das Gold heraus, das sein Sohn bei ihm zurückgelassen hatte, legte es hin und sagte: ,,Dies ist alles, was ich habe. Teilt dies unter euch; mehr habe ich nicht." Der Bursche befand sich aber unter den Leuten. Er trat hervor. Er rief: ,,Das ist nicht wahr, aber mein Vater weiß es nicht besser." Er zog aus dem Kleide einige Beutel Gold, legte sie vor seinen Vater hin und sagte: ,,Dies ist nur das, was ich von deinem Besitz unnütz ver- schwendet habe." So wurde der Vater des Burschen Agelith. Sein Sohn zog aber mit seinem Gold zu seinen Eltern und ward glücklich. Er war nur traurig, wenn er an seine junge Frau dachte.

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Eines Tages kam die Schwester seiner Mutter (= kholti) in den Ort, um den Sohn ihrer Schwester, der so glückhch heimgekehrt war, zu begrüßen. Er schhef schon, als sie kam, denn es war spät am Abend. Sie trat an sein Lager und küßte ihn auf die Stirne. Als der Bursche am andern Morgen erwachte, hatte er seine junge Frau vergessen.

Die junge Frau des Burschen, die jüngste Tochter des Wuarssen, war inzwischen allein in ihrem Hause. Sie wartete auf die Rück- kehr ihres Mannes. Von Zeit zu Zeit sah sie auf den Nagel ihres kleinen Fingers. Sie sah stets, daß ihr Mann, der Bursche, sie noch nicht vergessen hatte. Eines Tages betrachtete sie wieder den Nagel ihres kleinen Fingers. Sie sah, daß der Bursche von seiner Tante geküßt worden war und sie vergessen hatte. Sie betrachtete wieder den Nagel ihres kleinen Fingers und sah, daß der Bursche nicht schlecht geworden war. Da packte sie ihre Sachen, füllte einige Säcke mit Gold, bereitete sich Essen für die Reise, bestieg einen Maulesel und machte sich auf den Weg.

Die junge Frau ritt viele Tage, bis sie an den Ort kam, in dem ihr Mann als Sohn des Agelith im Hause seiner Eltern ein glückliches Leben führte. Sie ritt in den Ort ein und nahm ein Zimmer bei dem Kaffeewirt. Am andern Tage fragte sie den Kaffeeinhaber: ,, Willst du dein Kaffee nicht verkaufen? Was willst du dafür haben?" Der Kaffeewirt sagte: ,,Ich muß 500 Goldstücke dafür erhalten, dann gebe ich es einem andern." Die junge Frau sagte zu dem Kaffee- wirt: ,,Komm mit in mein Zimmer, ich will dir die 500 Goldstücke zahlen, wenn es auch viel zu teuer ist." Der Kaffeewirt erhielt die 500 Goldstücke. Die junge Frau besaß das Kaffeehaus.

Alle Leute erzählten sich in der Stadt: ,,Der Kaffeeinhaber hat sein Kaffee an eine sehr reiche junge Frau verkauft; die jetzige In- haberin ist schön wie die Sonne." Viele Leute kamen nun in das Kaffee, um die reiche, junge Kaffeewirtin zu sehen und mit ihr zu plaudern. Alle jungen Leute gingen bei der jungen, schönen Kaffeewirtin aus und ein, aber der Sohn des Agelith blieb daheim und kam nicht in das Kaffee. Die junge Frau blickte wieder auf den Nagel ihres kleinen Fingers und sagte: ,,Auf diese Weise werde ich meinen Mann nicht wiedersehen. Mein Mann hat aber zwei leicht- sinnige Freunde, die werden ihn mit sich zu mir bringen."

Am Abend waren wieder viele junge Leute im Hause der Kaffee- wirtin versammelt. Als es Mitternacht war, sagte die junge Frau zu ihren Gästen: ,,Es ist Mitternacht und ich schließe." Die Gäste

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sagten wie schon öfter: „Willst du nicht einen von uns bei dir be- behalten, daß er die Nacht mit dir plaudere?" Die junge Frau sagte: „Ich weiß, daß jeder von euch mich gerne heiraten möchte, weil ich reich und schön bin. Ich schließe aber heute mein Kaffee- haus um Mitternacht. Wenn morgen einer von euch 500 Goldstücke zahlen will, kann er die ganze Nacht bei mir plaudern." Die Gäste gingen aus dem Hause. Die junge Frau rief ihre Negerin und ließ das Haus verschließen.

Unter den Gästen waren zwei reiche junge Leute, die das Geld ihres Vaters verbrauchten. Sie waren mit dem Sohne des Agelith befreundet. Sie gingen am andern Tage zu dem Sohne des Agelith und sagten ihm: ,,Komm heute nur ein einziges Mal mit in das Haus der jungen, schönen Kaffeewirtin. Sie will dem, der ihr 500 Goldstücke zahlt, erlauben, die Nacht über mit ihr zu plaudern. Sie wird den sicher nachher heiraten. Komm mit und sage uns, ob sie es nicht wert ist, daß man ihr 500 Goldstücke zahlt und sie zur Frau nimmt." Der Bursche war neugierig, diese Frau zu sehen, die so schön war, daß seine Freunde bereit waren, 500 Goldstücke zu zahlen, um eine Nacht mit ihr zu plaudern. Er begleitete seine Freunde abends mit in das Kaffeehaus.

Als er in das Kaffeehaus kam und die junge Frau sah, er- kannte er sie nicht wieder. Er sagte nur: ,, Diese Frau ist wirklich schöner als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren Mann wieder und lachte ihn an. Er saß mit seinen Freunden zusammen. Seine Freunde sagten: ,,Ist sie nicht so schön, daß man gern 500 Goldstücke zahlt, um mit ihr zu plaudern?" Der Bursche sagte: ,,Ja, sie ist sehr schön." Die junge Frau setzte sich zu den drei Freunden. Einer der beiden Freunde des Burschen sagte zu der jungen, schönen Frau: ,,Darf ich heute nach Mitternacht bei dir bleiben, um mit dir zu plaudern ? Ich will dir gerne 500 Goldstücke bezahlen." Die junge, schöne Frau sagte: ,,Wenn du mir schwörst, vorher eine kleine Arbeit für mich zu verrichten, darfst du die ganze Nacht an meinem Lager sitzen und mit mir plaudern." Der junge Mann sagte: ,,Was für eine Arbeit ist dies?" Die junge, schöne Frau sagte: ,,Das wirst du erfahren, wenn du mir nachher die 500 Goldstücke bezahlt hast." Der junge Mann war einverstanden.

Als es Mitternacht war, schloß die junge schöne Frau ihr Haus. Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde und allen andern nach Hause. Die junge, schöne Frau nahm den jungen Mann mit in ihr Zimmer. Der junge Mann gab ihr die 500 Goldstücke und

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sagte: „Welche kleine Arbeit habe ich nun zu verrichten?" Die junge, schöne Frau sagte: „Es ist nichts weiter, schließe nur das Fenster. Während du das Fenster schließt, werde ich mich nieder- legen und einschlafen. Wenn du es geschlossen hast, wecke mich und wir können bis zum Morgen miteinander plaudern." Der junge Mann sagte: ,,Es lohnt nicht, daß du erst einschläfst. Ich werde es gleich geschlossen haben." Die junge, schöne Frau sagte: ,,Dann ist es desto besser für dich." Dann legte sie sich nieder und schlief sogleich ein.

Der junge Mann trat an das Fenster, um es zuzuschieben. Als er es zugeschoben hatte, ging es aber sogleich wieder auf. Er schob wieder und das Fenster ging wieder auf. Der junge Mann merkte, daß er seine Hand nicht eher vom Fenster wegnehmen konnte, als bis es zu war. So schob er die ganze Nacht das Fenster zu, das immer wieder aufging. Er schob, bis am andern Morgen die junge, schöne Frau aufwachte. Sogleich ging das Fenster zu. Der junge Mann sagte: ,,Nun wollen wir plaudern." Die junge, schöne Frau stand aber auf und sagte: ,,Nun ist es zu spät. Die Sonne ist aufge- gangen. Du hast deine 500 Goldstücke schlecht benutzt." Der junge Mann ging.

Am Abend kamen die drei Freunde zusammen. Der junge Mann, der die Nacht im Zimmer der jungen, schönen Frau zugebracht hatte, sagte zu seinen Freunden: ,,Es war eine herrliche Nacht. Das nächste Mal werde ich 1000 Goldstücke bezahlen." Der andere junge Mann sagte: ,, Heute nacht werde ich die 500 Goldstücke be- zahlen." Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde wieder in das Kaffeehaus der jungen, schönen Frau. Als er sie sah, erkannte er sie wieder nicht. Er sagte aber bei sich: ,, Diese Frau ist wirk- lich schöner als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren Mann und lachte ihn an.

Er saß mit seinen Freunden zusammen. Der zweite der jungen Männer sagte zu der jungen, schönen Frau: ,,Darf ich heute nach Mitternacht bei dir bleiben, um mit dir zu plaudern? Ich will dir gerne 500 Goldstücke bezahlen." Die junge, schöne Frau sagte: ,,Wenn du mir schwörst, vorher eine kleine Arbeit für mich zu ver- richten, darfst du die ganze Nacht an meinem Lager sitzen und mit mir plaudern." Der zweite junge Mann sagte: ,,Was für eine Ar- beit ist das ?" Die junge, schöne Frau sagte: ,,Das wirst du erfahren, wenn du mir nachher die 500 Goldstücke bezahlt hast." Der zweite junge Mann war einverstanden.

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Als es Mitternacht war, schloß die junge, schöne Frau ihr Haus. Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde und allen andern nach Hause. Die junge, schöne Frau nahm den zweiten jungen Mann mit in ihr Zimmer. Der junge Mann gab ihr die 500 Gold- stücke und sagte: ,, Welche kleine Arbeit habe ich nun zu ver- richten?" Die junge, schöne Frau sagte: ,,Es ist nichts weiter. Fülle mir nur diesen Topf Wasser aus dem Krug ! Während du den Topf füllst, werde ich mich niederlegen und einschlafen. Wenn du ihn gefüllt hast, wecke mich und wir können bis zum Morgen mit- einander plaudern." Der junge Mann sagte: ,,Es lohnt nicht, daß du erst einschläfst; ich werde den Topf sogleich gefüllt haben." Die junge, schöne Frau sagte: ,,Dann ist es desto besser für dich." Dann legte sie sich nieder und schlief sofort ein.

Der zweite junge Mann ergriff den Topf und wollte ihn aus dem Kruge füllen. Als er den Topf aber wieder aus dem Wasser empor- hob, war er leer wie zuvor. Er führte ihn wieder in das Wasser und zog ihn leer wieder heraus. Der zweite junge Mann merkte, daß er seine Hände nicht eher von dem Topf und dem Krug wegnehmen konnte, als bis der Topf voll sei. Er schöpfte die ganze Nacht. Der Topf blieb leer. Er schöpfte, bis am Morgen die Sonne aufging. Als die Sonne aufging, erwachte die schöne, junge Frau. Sogleich war der Topf mit Wasser gefüllt. Der zweite junge Mann sagte: ,,Nun wollen wir plaudern." Die junge, schöne Frau stand auf und sagte: ,,Nun ist es zu spät. Die Sonne ist aufgegangen. Du hast deine 500 Goldstücke schlecht benutzt." Der zweite junge Mann ging.

Am Abend kamen die drei Freunde zusammen. Der zweite junge Mann sagte zu seinen Freunden: ,,Es war eine herrliche Nacht. Das nächste Mal werde ich 1000 Goldstücke bezahlen." Der Sohn des Agelith ging mit seinen beiden Freunden in das Kaffee- haus der jungen, schönen Frau. Als er sie sah, erkannte er sie wieder nicht. Er sagte bei sich: ,, Diese Frau ist wirklich schöner als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren Mann und lachte ihn an.

Der Sohn des Agelith saß mit seinen Freunden zusammen. Er sprach nicht. Als es Mitternacht war, sagte die junge, schöne Frau: „Es ist Mitternacht. Ich schließe jetzt das Kaffeehaus." Der Sohn des Agelith sagte: ,,Ich habe die 500 Goldstücke. Ich werde die kleine Arbeit vorher verrichten. Darf ich zum plaudern bei dir bleiben?" Die junge, schöne Frau sagte: ,,Es ist recht." Die andern

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Gäste verließen das Haus. Die junge, schöne Frau schloß das Haus hinter ihnen.

Die junge, schöne Frau nahm den Sohn des Agelith mit in ihr Zimmer. Der Sohn des Agelith legte die 500 Goldstücke hin. Die junge, schöne Frau sagte: ,,Nun schließ nur die Türe. Während du die Türe schließt, werde ich mich niederlegen und einschlafen. Wenn du die Türe geschlossen hast, wecke mich und wir können bis zum Morgen miteinander plaudern." Der Sohn des Agelith sagte nichts. Die junge, schöne Frau legte sich nieder und schlief sogleich ein. Der Sohn des Agelith trat an die Tür, um sie zu schließen. Er drückte die Tür heran; sie sprang wieder auf . Er drückte die Tür zum zweitenmal heran; sie sprang wieder auf. Er drückte die Tür zum drittenmal heran; sie sprang wieder auf. Der Sohn des Agelith wollte die Hand von der Tür ziehen. Die Hand war fest an der Tür. Er sah sich um. Er sah, daß die junge, schöne Frau eingeschlafen war. Da riß er die Tür heraus, trat mit der Türe im Arm an das Lager der jungen, schönen Frau, weckte sie und sprach: ,, Sorge, daß die Tür zugeht." Die junge Frau lachte. Sie sagte: ,,Du bist klüger; stelle die Tür wieder hin, wo sie hingehört. Sie wird jetzt schließen. Dann komm und setze dich an mein Lager." Der Sohn des Agelith trug die Tür zurück, hängte sie ein und schloß sie. Dann kehrte er an das Lager der jungen, schönen Frau zurück.

Er setzte sich an das Lager der jungen, schönen Frau. Sie fragte den Sohn des Agelith: ,,Du kennst mich nicht?" Der Sohn des Agelith sagte: ,,Nein, ich kenne dich nicht." Da gab die junge Frau ihm einen Schlag ins Gesicht. Im gleichen Augenblick erkannte er seine junge Frau wieder und fiel ihr um den Hals. Der Sohn des Agelith lachte. Die junge, schöne Frau lachte. Die junge Frau sagte: ,,Du hattest mich vergessen, weil deine Tante dich auf die Stirne geküßt hat. Du schliefst. Es war nicht deine Schuld." Der Sohn des Agelith sagte: ,,Komm morgen mit in das Haus meines Vaters. Wir wollen hier bleiben." Die junge, schöne Frau sagte: ,,Ich will es tun. Du bist klüger als die andern jungen Männer in der Stadt." Die junge Frau erzählte, wie die beiden Freunde die ganze Nacht mit dem Schließen des Fensters und dem Schöpfen des Wassers verbracht hatten, ohne zu wagen, sie zu wecken. Die junge, schöne Frau und der Sohn des Agelith lachten.

Der Sohn des Agelith blieb die ganze Nacht bei seiner jungen Frau und plauderte mit ihr. Als es Morgen war, sandte er die Negerin des Hauses zu seinem Vater und ließ ihm sagen: ,, Meine

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junge Frau ist angekommen. Bereite ein großes Fest. Kommt und holt uns ein!" Alsbald kam der Vater mit seinen Leuten und einer Sänfte. Der Agelith begrüßte seine Schwiegertochter und sagte: ,,Sie ist wirklich schöner als die Sonne." Er brachte seinen Sohn und seine Schwiegertochter heim. Unterwegs verteilte die junge Frau die looo Goldstücke, die sie von den jungen Männern emp- fangen hatte.

Der Agelith feierte seinem Sohne und seiner Schwiegertochter ein großes Fest. Alle Leute waren fröhlich und jedermann mit dem neuen Agelith zufrieden. Als der Agelith aber starb, war sein Sohn sein Nachfolger.

5. Die Diebe und die Wuarsseti

Kassi war ein sehr geschickter und vielgefürchteter Dieb, der seine Züge meistens allein unternahm und nur dann, wenn es sich um eine ganz besondere Sache handelte, die einer allein nicht vollbringen konnte, einen Gesellen mitnahm. Einmal nun hatte Kassi gehört, daß ein reicher Besitzer einen ganz besonders schönen Ziegenbock habe, den er ganz außerordentlich schätze und mit aller Sorgfalt vor Dieben schütze. Kassi beschloß, diesen Ziegenbock zu stehlen und nahm zu diesem Zwecke einen Gesellen mit. Kassi und der Geselle gingen in den Ort, wo der Besitzer wohnte, und zwar an jene Stelle, an der die Knaben spielten. Unter den Knaben war auch der junge Sohn des Besitzers, und Kassi suchte ihn auf. Er rief ihn heran, schenkte ihm einige Nüsse und sagte ihm, daß er und sein Kamerad Freunde seines Vaters wären und fragte nach diesem und jenem, um so die Gelegenheit zur Kenntnis zu nehmen. Der Knabe erzählte auch alles, was man von ihm zu wissen verlangte und sogar noch mehr. So erfuhren Kassi und sein Geselle denn, daß der schöne Ziegenbock sehr sorgfältig aufbewahrt werde, daß der Besitzer ihn nachts immer neben sich schlafen lasse und daß es un- möglich sei, ihm durch die Türe oder gar bei Tage beizukommen. Nachdem Kassi und sein Geselle dieses und eine Beschreibung des Gehöfts gewonnen hatten, verabschiedeten sie sich von dem Knaben und gingen von dannen.

Der Knabe erzählte, als er nach Hause kam, dem Vater von den zwei freundlichen Männern, die mit ihm gesprochen und ihm Nüsse geschenkt hätten. Der Vater hörte dem Plaudern des Knaben zu und sagte bei sich: ,,Das müssen zwei Diebe gewesen sein, die

meinen Ziegenbock stehlen wollten. Ich werde in der nächsten Nacht ganz besonders auf meiner Hut sein." Dem Beschlüsse folgend, blieb der Besitzer die ganze kommende Nacht vom Abend bis zum Morgen wach und hörte aufmerksam auf Geräusche. Es kamen aber keine Diebe und es war nichts Ungewöhnliches zu hören. Die Folge des Wachens und Aufmerkens in dieser ersten Nacht war, daß der Besitzer in der zweiten darauffolgenden um so fester schlief. Darauf hatte sich Kassi auch verlassen, und noch lange vor Mitternacht machte er und sein Geselle sich mit eisernen Brechstangen (Tanugha; Plural: Tinuighuin) daran und brachen in die Mauer, nahe dem Lager des Besitzers, ein Loch, durch das ein Mann hineinschlüpfen konnte. Kassi drang also in das Haus und packte den herrlichen Ziegenbock. Der stemmte sich aber gegen den Boden und wollte sich durch die Bresche nicht herausziehen lassen. Kurz entschlossen schnitt Kassi ihm die Kehle durch, häutete ihn ab, zerlegte ihn und füllte das Fleisch in die abgezogene Decke. Das Bündel reichte er seinem Gesellen heraus und folgte dann selbst nach. Er eilte so schnell er konnte von dannen, und der Geselle mit dem Fell- und Fleischbündel folgte ihm.

Kassi und sein Geselle waren noch auf dem Heimwege, da wachte der Besitzer auf, faßte nach seinem Bock, fand ihn aber nicht, ent- deckte dafür die Bresche und am Boden das Blut des geschlachteten Bockes und sagte: ,,Sie haben ihn also doch genommen. Nun, ich werde mir den Bock wiederholen." Der Besitzer lief sogleich hinter den Dieben her. Es dauerte auch nicht lange, so hatte er sie ein- geholt. Er blieb nun ganz dicht bei ihnen. Kassi war etwas voraus, der Geselle weiter hinten. Unterwegs wollte der Geselle sich etwas ausruhen, denn die Ziegendecke mit dem vielen Fleisch war schwer. Der Geselle sagte: ,, Kassi!" Sogleich antwortete der Besitzer: ,,Hier bin ich. Die Last wird dir wohl etwas schwer! Ich werde dich einmal im Tragen ablösen." Der Geselle glaubte, der Sprecher sei Kassi und gab ihm die Last. Der Besitzer nahm die Last und sagte zu dem Gesellen: ,,Nun geh nur voran, ich komme schon lang- sam nach." Der Geselle ging weiter. Der Besitzer folgte noch einige Schritte weit, dann blieb er zurück, wandte sich um und lief mit dem zurückgewonnenen Ziegenfleisch nach Hause.

In seinem Gehöft wieder angekommen, weckte er seine Frau, gab ihr das Ziegenfell mit dem Fleisch darin und sagte: ,, Verstecke das gut, denn heute nacht kommen vielleicht die Diebe noch einmal, um den Ziegenbock noch einmal zu stehlen. Ich bin nun müde und

4 Frobenius, Atlantis II. Band 49

will mich etwas zum Schlafen hinlegen.** Die Frau nahm das Fell mit dem Fleisch darin und verwahrte es. Der Besitzer legte sich aber wieder hin und schlief sogleich ein.

Inzwischen blieb der vorausgegangene Kassi stehen und sah sich nach dem Gesellen mit der Ziegenfleischlast um. Als der Geselle kam, sagte der: „Was, Kassi, du bist jetzt vor mir?'* Kassi fragte aber den Gesellen: ,,Wo hast du denn die Last mit dem Ziegen- fleisch?** Der Geselle sagte: ,,Das Ziegenfleisch hast du mir doch vor einiger Zeit abgenommen!** Kassi sagte sogleich: ,, Hol So ist der Besitzer also doch hinter uns hergekommen und hat uns den Ziegenbock wieder abgenommen. Aber warte, wir wollen ihn uns wiederholen.**

Kassi machte sich mit dem Gesellen sogleich auf den Rückweg. Sie kamen wieder am Gehöft des Besitzers an. Kassi kroch vor- sichtig wieder durch die Bresche und vergewisserte sich, daß der Besitzer fest schlief. Als er das beobachtet hatte, sagte er bei sich: ,,Der kann nur so fest schlafen, wenn er den Ziegenbock seiner Frau zur Aufbewahrung übergeben hat.** Kassi ging zur Frau des Besitzers und sagte: ,,Frau, ich karm vor Sorge nicht recht schlafen. Hast du das Fell mit dem Ziegenfleisch auch wohl verwahrt?** Die Frau sagte: ,,So sorge dich nur nicht so, sondern schlafe wohl. Das Fell mit dem Ziegenfleisch liegt wohlverwahrt im Baerka (Speicher- topf oder Höhle in der kleinen Urnenbank), da werden sie es nicht suchen.** Kassi sagte: ,,Ich muß mich nun schnell noch einmal ver- gewissern, ob es auch da ist.** Kassi ging hin, nahm den Fellballen heraus und sagte: ,,Er liegt ganz sicher da. Dann schlafe du nur auch. Im Baerka werden die Diebe nicht suchen.** Kassi nahm das Bündel und schlüpfte damit zur Bresche hinaus.

Kassi eilte mit dem Gesellen von dannen in den Wald. Sie trugen das Fleischbündel bis auf einen Kirchhof, der mitten im Wald um eine kleine Kapelle herum angelegt war. Dort zündeten sie ein Feuer an, holten aus dem Brunnen der Kapelle Wasser, setzten den Topf auf und begannen das Fleisch zu kochen.

Inzwischen wachte der sorgsame Besitzer auf und fragte seine Frau: ,,Frau, hast du auch das Fleisch des Ziegenbockes gut ver- steckt?** Die Frau sagte: ,,Aber Mann, ich habe dir doch vorhin erst gesagt, daß ich das Fleisch im Baerka versteckt habe, und du hast dich selbst danach umgesehen. Seitdem hat sich im Hause nichts gerührt. Der Besitzer sagte: ,,Was, ich soll dich schon einmal danach gefragt und im Baerka nachgesehen haben.

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Ich bin ja gar nicht wach gewesen, seitdem ich dir das Fleisch über- geben habe. Wenn das nur nicht wieder dieser Kassi gewesen ist!" Der Besitzer stand auf, er ging zum Baerka. Er griff hinein und sagte: ,,Es ist wieder gestohlen. Ich werde mir aber meinen Bock wiederholen."

Der Besitzer nahm ein altes Schaffell mit und lief sogleich hinter den Dieben her. Er kam an die Kapelle und sah, wie die Diebe das Fleisch drin kochten. Der Besitzer legte sogleich das Lammfell vor das Gesicht,* steckte so verhüllt den Kopf in das Kapellenfenster und brüllte. Die beiden Diebe fuhren auf. Der Geselle schrie: ,, Das ist ein Wuarssen" und sprang zur Kapellentür hinaus in den Wald. Kassi wurde auch von dem Schreck gepackt und lief auch weg. Dann kam der Besitzer in die Kapelle, hob den Topf mit dem Fleisch auf und trug ihn von dannen, zurück in sein Haus.

Inzwischen sagte sich Kassi: ,,Wenn es ein Wuarssen ist, frißt er das Fleisch gleich auf. Trägt er den Topf mit dem Fleisch fort, so ist es der Besitzer." Er schlich sich heran und sah, daß der Mann den Topf forttrug. Da rief er seinen Gesellen heran. Sie liefen beide ein Stück voran, überfielen den Besitzer im Busch, schlugen ihn mit der Debus (Keule), so daß er ohnmächtig niederfiel und trugen den Topf mit dem Fleisch wieder in die Kapelle zurück.

Kassi und der Geselle setzten das Geschäft des Kochens fort und waren so ungefähr damit fertig, als der wahre Wuarssen, der diesen Wald bewohnte, in die Kapelle durch die Tür hereintrat. Kassi und der Geselle erschraken. Kassi faßte sich aber schnell und sagte: ,,Darf ich dich einladen, dieses ausgezeichnete Fleischgericht zu ge- nießen?" Der Wuarssen nahm sogleich Platz und sah in den Topf. Er begann hineinzugreifen und ein Stück nach dem andern heraus- zunehmen und zu verschlingen. Kassi sagte zu dem Gesellen: ,, Bleib du zur Gesellschaft hier. Ich will nur hinausgehen und einen Topf guten Wassers zum trinken holen." Der Geselle blieb also, Kassi ging aber hinaus, suchte dort einen hohen Baum aus, stieg hinauf und versteckte sich in den dichten Zweigen.

Der Wuarssen inzwischen den Topf vollkommen aus, so daß auch nicht ein Fleischfetzen mehr darin war. Der Wuarssen ergriff dann einen Toten, den er aus dem Grabe nahm, hielt ihn den Ge- sellen hin und sagte: ,,Du hast mich zu Gaste geladen und mir dieses ausgezeichnete Bockfleisch gegeben, das mir vorzüglich ge-

* Das ist die sogenannte Amchar-ocharus-Maskierung, mit der die Wu- arssen im Spiele früher nachgeahmt wurden. Vgl. Bd. I S. 45.

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schmeckt hat. Ich will dir dafür diesen toten Menschen geben, der dir auch gut schmecken wird. Ich bin nicht undankbar. Da, iß!" Dabei hielt er dem Gesellen den Toten hin. Der Geselle fiel vor Schreck in Ohnmacht. Da ergriff ihn der Wuarssen und ver- schluckte ihn.

Dann trat der Wuarssen an die Tür der Kapelle und rief in den Wald: ,,Wo ist Kassi? Kassi hat mir einen Dienst erwiesen und mir diesen vorzüglichen Bock vorgesetzt. Ich bin Kassi zu Dank verpflichtet und ich bin nicht undankbar. Ich will Kassi von mei- nen Schätzen geben. Kassi! Komm!" Kassi glaubte dem Wuars- sen. Er wußte, daß der Wuarssen große Schätze besaß. Er stieg von dem Baume herab. Der Wuarssen packte ihn und verschlang ihn.

6. M'hammed Asserdun bei dem Wuarssen

Iti alter Zeit war ein Mann, der hatte drei Knaben und ein Mäd- chen. Eines Tages ritt er zu einem Fest auf den Markt. Ehe er wegritt, sagte er zu den Kindern: ,, Jedes von euch kann sich etwas wünschen, das ich ihm dann vom Markte mitbringe." Auf dem Markt konnte er das, was die Knaben sich gewünscht hatten, kaufen. Das aber, was das Mädchen sich erbeten hatte, konnte er nicht finden. Der Vater kam ohne das Geschenk für das Mädchen heim.

Das Mädchen hatte sich vom Vater eine Hose (assaru[e]l) ge- wünscht, die nicht genäht war und von selbst tanzte. Als der Vater sie nun nicht mitbringen konnte, weil er sie nicht fand, wurde das Mädchen vor Kummer krank. Darüber erschrak der Vater. Er fragte alle Leute: ,,Wo kann ich nur eine Hose, die nicht genäht ist und von selbst tanzt, bekommen?" Niemand konnte es ihm sagen. Endlich sagte eine alte Frau: ,,Nur der Wuarssen hat eine solche Hose!" Der Vater schwor und sagte: ,,Ehe meine Tochter darüber stirbt, will ich zum Wuarssen gehen und ihn um die Hose bitten, bis er sie mir gibt."

Der Vater wanderte und wanderte und wanderte. Endlich kam er zum Wuarssen. Der Wuarssen fragte den Vater: ,,Was willst du?" Der Vater sagte: ,, Meine Tochter wird sterben, wenn sie nicht die Hose, die ohne Naht ist und von selbst tanzt, von mir erhält." Der Wuarssen sagte: ,,Ich werde die Hose finden; ich weiß aber, daß du eine Tochter von unvergleichlicher Schönheit hast. Ich werde dir die Hose nur geben, wenn du mir deine Tochter zur Frau gibst."

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Der Vater sagte: ,,Wenn meine Tochter die Hose, die nicht genäht ist und von selbst tanzt, für keinen andern Preis erhalten kann, so gib sie her. Du sollst meine Tochter zur Frau haben." Der Wuars- sen gab dem Vater die Hose und fragte: ,,Wann kann ich kommen, deine Tochter abzuholen?" Der Vater sagte: ,, Komme an einem Tag, an dem Schnee, Regen, Wind, Donner (=r-äd) und Blitz (=sorak) zusammentreffen." Der Wuarssen sagte: ,,Ich werde an dem Tage kommen, deine Tochter abzuholen."

Der Vater kam mit der Hose heim. Er gab die Hose seiner Toch- ter und sagte: ,,Hier hast du die Hose; du wirst nun aber den Wuarssen heiraten müssen." Die Tochter bedankte sich und ward gesund.

Eines Tages war großer Sturm und es schneite, es regnete, don- nerte und blitzte. Es klopfte an die Türe des Hauses. Die Mutter öffnete. Vor der Türe stand ein ungeheuer großer Mann. Der Mann sagte: ,,Ich will ins Haus kommen." Die Mutter bot ihm ein Ge- schenk. Der Wuarssen sagte: ,,Ein Geschenk will ich nicht; ich will deine Tochter." Der Vater kam. Der Vater bot ihm ein Ge- schenk. Der Wuarssen sagte: ,,Ein Geschenk will ich nicht; ich will deine Tochter." Der Vater rief die schöne Tochter und sagte zu ihr: ,,Du siehst, dein Tag ist gekommen; nun rüste dich; zahle nun deinen Wunsch!" Die Tochter packte ihre Sachen zusammen und kam heraus. Der Wuarssen ergriff das Mädchen am Arm, hob sie auf seine Schulter und ging mit ihr von dannen. Er brachte sie in sein Haus.

Die drei Brüder des Mädchens waren herangewachsen. Eines Tages spielten sie. Eine alte Frau (= setut; unter setut versteht der Kabyle ein echtes ,, altes Weib" von verschlagenem, bösartigem, unheimlichem, mißlaunigem Charakter. Jeder Setut traut der Kabyle außerdem Böswillen und Zauberkunst zu) kam hinzu. Das alte Weib sagte: ,,Wenn ihr Männer gewesen wärt, hätte eure Schwester nicht durch den Wuarssen geraubt werden können." Die drei Brüder schwiegen und gingen. Die drei Brüder bereiteten Essen für die Reise.

Die drei Brüder wanderten und wanderten und wanderten. Sie kamen eines Tages zu einem Schafhirten mit seiner Herde. Sie sagten zu dem Schafhirten: ,, Kannst du uns den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der unsere Schwester geraubt hat?" Der Schaf- hirt sagte: „Ja, den Weg kenne ich, ich bin der Diener ( = achm^ss)

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dieses Wuarssen. Eure Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne euch aber. Seht diesen Widder (= ikerri). Nur, wenn ihr den aufzuheben vermögt, werdet ihr eure Schwester wiedergewinnen können. Denn jeden Morgen kämpft der Wuarssen mit dem Widder, ohne daß einer den andern zu besiegen vermag. Wenn ihr den Widder nicht besiegen könnt, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Die drei Brüder sagten: ,,Wir wollen es versuchen." Der Widder rannte heran. Der Widder packte die drei Brüder mit den Hörnern und schleu- derte sie hoch. Die drei Brüder flogen weit fort in ein anderes Land.

In dem anderen Land trafen die drei Brüder einen Ochsenhirten mit seiner Herde. Sie sagten zu dem Ochsenhirten: ,, Kannst du uns den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der unsere Schwester geraubt hat?" Der Ochsenhirt sagte: ,,Ja, den Weg kenne ich; ich bin der Diener dieses Wuarssen. Eure Schwester ist noch bei dem Wuars- sen. Ich warne euch aber. Seht diesen Stier (= a'jenu). Nur, wenn ihr den aufzuheben vermögt, werdet ihr eure Schwester wieder- gewinnen können. Denn jeden Morgen und jeden Abend kämpft der Wuarssen mit dem Stier, so daß die Mauern einstürzen, ohne daß einer den andern zu besiegen vermag. Wenn ihr den Stier nicht besiegen könnt, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Die drei Brüder sagten: ,,Wir wollen es versuchen." Der Stier rannte heran. Der Stier packte die drei Brüder mit den Hörnern und schleuderte sie hoch. Die drei Brüder flogen weit fort in ein anderes Land.

In dem andern Lande trafen die Brüder einen Hühnerhirten mit seiner Herde. Sie sagten zu dem Hühnerhirten: „Kannst du uns den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der unsere Schwester geraubt hat?" Der Hühnerhirt sagte: ,,Ja, den Weg kenne ich, ich bin der Diener des Wuarssen. Eure Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne euch aber. Seht diesen Hahn. Nur, wenn ihr den aufzuheben vermögt, werdet ihr eure Schwester wieder- gewinnen können. Jeden zweiten Tag kämpft der Wuarssen vom Morgen bis zum Abend (= arba lukas, d. h. die vier Teile eines Tages) mit ihm. Einen Tag kämpft er mit ihm, einen Tag führe ich den Hahn auf die Weide. Sie kämpfen stets miteinander, ohne daß einer den andern besiegen kann. Wenn ihr den Hahn nicht be- siegen könnt, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Die drei Brüder sagten: ,,Wir wollen

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es versuchen." Der Hahn sagte aber (verächtlich) : ,,Ihr seid Zedjed (zu unbedeutend; eigentlich: »Unbedeutende*). Mit euch kämpfe ich nicht."

Die Brüder gingen in den Garten. Sie sahen da eine Menge Melonen (Melone = afkoss) an einer Quelle. An der Quelle trafen , sie eine Negerin ( = zächliss; Neger = ächli). Die drei Brüder sag- ten zu der Negerin: „Kannst du uns nicht den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der unsere Schwester geraubt hat?" Die Negerin sagte: „Ja, den Weg kenne ich, ich bin eine Negerin des Wuarssen. Eure Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne euch aber. Seht diesen großen Korb voll Melonen und diesen Ledersack (= aidid) voll Wasser. Nur, wenn ihr die gesamten Melonen essen und den Ledersack austrinken könnt, werdet ihr eure Schwester gewinnen können. Denn jeden Morgen verzehrt der Wuarssen diese Melonen- menge und trinkt er diesen Ledersack leer. Wenn ihr das nicht könnt, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen über- haupt erst zu beginnen." Die drei Brüder waren sehr hungrig und durstig. Sie begannen zu essen und zu trinken. Sie konnten aber nicht einmal eine Melone gemeinsam verzehren. Da waren sie schon satt. Sie konnten kaum den obersten Teil des Wassersackes austrinken, da waren sie schon satt. Die Negerin sagte: ,, Geht lieber nicht zu dem Wuarssen. Der Wuarssen wird euch vernichten." Die drei Brüder sagten: ,,Wir wollen doch gehen."

Die drei Brüder kamen in das Haus. Der Wuarssen war nicht daheim. Die Schwester der Brüder war aber im Hause. Die Schwe- ster sprang auf . Sie begrüßte die Brüder. Sie sagte: ,, Meine Brüder, der Wuarssen wird euch verschlingen, wenn er euch hier trifft." Sie versteckte die Brüder sogleich in einer Grube ( = tarischt, d. h. ein Einstiegloch in einem Haussilos, einen Speicherkeller). Die Schwester bereitete für die Brüder ein gutes Essen und reichte es ihnen herab in den Keller.

Abends kam der Wuarssen nach Hause. Er witterte ( = uardelli) umher und sagte: ,,Ich rieche Menschen. Wer ist hier? Wer hier versteckt ist, soll hervorkommen. Ich will ihm das Leben lassen, aber ich verspreche ihm das erst dann, wenn er hervorgekommen ist." Die drei Brüder verhielten sich still. Die Schwester sagte: ,, Es kam ein Krämer ( = autas) vorbei. Ich habe ihm etwas geschenkt, aber ich habe in deiner Abwesenheit nicht gewagt, ihm etwas ab- zukaufen. Sein Geruch ist im Hause geblieben." Der Wuarssen glaubte seiner Frau nicht. Er suchte im ganzen Hause. Er blickte

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in den Tarischt hinab. Der Wuarssen sah die drei Brüder. Die drei Brüder erschraken. Die Schwester erschrak.

Der Wuarssen sagte: „Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?" Die Schwester sagte: ,,Dies sind meine drei Brüder." Der Wuarssen sagte: ,,Dann sollen sie mir willkommen sein. Bereite uns Essen." Der Wuarssen pflegte zum Abend ein Schaf und eine Holzschale ( = djifla) voll Kuskus ( = suksu) zu verzehren. Der Wuarssen sagte: ,,Wie wollen wir es machen? Einer wird essen. Der andere soll um das Haus gehen. Wenn ich schneller esse, als ihr um das Haus kommt, oder ihr langsamer eßt, als ich um das Haus zu kommen vermag, will ich euch verschlingen. Welches wählt ihr?" Die Schwester winkte den Brüdern. Da sagten die Brüder: ,,Wir wollen essen und du sollst um das Haus gehen. Wenn du schneller um das Haus kommst, als wir zu essen vermögen, dann hast du ge- wonnen." Der Wuarssen sagte: ,,Es ist mir recht."

Der Wuarssen ging heraus. Die Schwester warf den gekochten Hammel, den Kuskus und das Wasser in den Tarischt. Der Wuarssen kam auf der anderen Seite zurück. Er sah, daß die Mahl- zeit verschwunden war. Der Wuarssen erstaunte. Die drei Brüder sagten aber: ,,Gib uns noch mehr Essen, wir sind noch hungrig."

Der Wuarssen sagte zu den drei Brüdern: ,,Wir wollen mit- einander fechten. Wenn ich euch besiege, werde ich euch ver- schlingen. Wollen wir kämpfen mit Kopfstoß, mit Faustschlag oder mit dem Säbel ?" Die Schwester winkte den Brüdern. Da sagten die drei Brüder: ,, Faustschlag ist gut für Esel und für dich. Kopfstoß ist gut für Widder und für dich. Für uns als Söhne eines Agelith ist nur der Säbel gut." Der Wuarssen war wütend. Er sagte: „So kann ich euch nicht verschlingen. Aber es soll euch nicht gut gehen." Er packte die drei Brüder und steckte sie in einen Brunnen- schacht (= lewir oder ellewir).

Die drei Söhne kamen nicht zurück; da weinten die Eltern. Der Vater sagte zur Mutter: ,,Komm, wir wollen sie suchen." Die Mutter bereitete das Essen für die Wanderung. Der Vater packte den Maulesel. Sie wanderten von dannen. Der Vater und die Mutter kamen in ein wüstes Land. Es war große Hitze. Die Mutter hatte großen Durst. Der Vater ging herum und suchte Wasser. Die Mutter wartete und wartete. Der Maulesel schlug sein Wasser ab. Da fing die Mutter mit der Hand davon auf und trank es. Die Mutter fühlte sogleich, daß sie guter Hoffnung war. Als der Vater

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von der Wassersuche zurückkam, sagte sie: ,,Ich habe soeben von dem Wasser des Maulesels aufgefangen und getrunken und fühle, daß ich davon guter Hoffnung geworden bin." Der Vater sagte: „Dann wollen wir heimkehren."

Sie waren noch nicht wieder daheim, da ward ein Knabe geboren. Als der Knabe geboren wurde, bedeckte er sogleich das Gesicht mit den Händen, denn er hatte den Körper eines Menschen, aber den Kopf eines Maulesels. Als der Vater das sah, nannte er ihn M'ham- med Asserdun (der Eselköpfige). Der Vater brachte den Sohn auf den Zwischenböden ( = tarorfitz, d. i. turmartiger Speicher über dem Stall, dem Adäinin) unter. M'hammed Asserdun empfing als Essen nur Fleisch ohne Knochen. Am ersten Tage verzehrte er schon eine ganz große Platte voll Kuskus mit Fleisch ganz allein. Am andern Tage verzehrte er zwei Platten Kuskus. Am dritten Tage verzehrte er schon vier Platten Kuskus. Am vierten Tage ver- zehrte er schon acht Platten Kuskus. Am fünften Tage sechzehn Platten Kuskus. Der Vater hatte nicht mehr so viel Essen im Hause, als M'hammed Asserdun verzehren wollte. Er ging zum Tadjemaid ( = Männerversammlungsplatz). Der Vater sagte zu den Männern: ,,Ich kann meinen Sohn M'hammed Asserdun nicht mehr ernähren. Wer kann mir nur sagen, wie ich mich meines Sohnes M'hammed Asserdun entledigen kann. Wer das vermag, mit dem will ich den mir von dem Sohne übriggelassenen Rest meines Besitzes teilen." Die Männer in der Versammlung konnten keinen Rat geben. Sie gingen aber nach Hause und erzählten es im Dorfe.

Die alte Setut, die die drei Brüder M'hammed Asserduns zu dem Wuarssen geschickt hatte, hörte es auch und sagte: ,,Auf meinen Kopf! Ich kann es." Sie ging zum Vater M'hammed Asserduns und fragte: ,,Soll ich es versuchen?" Der Vater sagte: ,, Versuche es auf deine eigene Gefahr. Am andern Tage brachte die alte Setut dem M'hammed Asserdun das Essen auf den Zwischenboden. Sie hatte aber bei sich in der Brusttasche (= ischuri) einen Knochen, an dem außen nur wenig Fleisch, der aber in seinem Innern voll Mark (= adif) war. M'hammed Asserdun sah den Knochen. Er das Fleisch, betrachtete den Knochen und schlug ihn dann gegen die Mauer. Der Knochen zerbrach. Die Mauer zerbrach auch. M'hammed Asserdun das Mark und blickte dann durch das Loch in der Mauer heraus.

M'hammed Asserdun sah zum erstenmal die Natur. Er erblickte draußen Knaben, die spielten Tathuscht (eine Art Sautreiben; der

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Ball aus Baummark; die Stöcke zum Schlagen). M'hammed Asser- dun brach die Mauer noch weiter auf und sprang aus dem Tarorfitz heraus auf den Spielplatz. Auf dem Spielplatz war auch der Sohn der Setut. Er war immer Sieger im Tathuscht; nie hatte ein anderer ihn zu besiegen vermocht. M'hammed Asserdun spielte mit den Knaben. Er besiegte den Sohn der Setut. Der Sohn der Setut war eifersüchtig. Er wollte M'hammed Asserdun schlagen. M'hammed Asserdun aber schlug ihn auf die Beine, daß sie zerbrachen, dann packte er ihn und warf ihn hoch in die Luft. Der Sohn der Setut kam wieder lebend zur Erde, aber er war todkrank.

Am andern Tage sah M'hammed Asserdun ein Pferd. Er fing es und bestieg es. Das Pferd brach aber unter ihm tot zusammen. So tötete er seinem Vater 99 Pferde. Der Vater entsetzte sich. Der Vater ging zu dem Amrar Asmeni (dem weisen Mann). Er sagte: ,,Du bist weiser als wir alle. Hilf mir in einer Sache; ich will auch alles tun, wie du es rätst." Amrar Asmeni sagte: ,, Worum handelt es sich ?" Der Vater sagte: ,,Ich habe einen Sohn M'hammed Asser- dun. Zuerst er so viel, daß ich mein ganzes Vermögen dabei ein- büßte. Nun ist er so stark geworden, daß er alles zerstört. Er hat schon 99 Pferde unter sich zermalmt. Soll ich den Sohn töten, oder was rätst du mir sonst?" Amrar Asmeni sagte: ,,Am Tage der Ge- burt deines Sohnes M'hammed Asserdun ist auch ein Pferd ge- boren worden. Das ist das rechte Tier für ihn. Für alles andere laß nur die Setut sorgen."

Der Vater gab dem M'hammed Asserdun das Pferd, das am gleichen Tage mit ihm geboren wurde. M'hammed Asserdun be- stieg es; es trug ihn. M'hammed Asserdun ritt mit ihm davon. Er blieb zwei Tage auf seinem Rücken ohne abzusteigen und kehrte dann erst zurück. Auf dem Heimweg kam er vor dem Orte an einer Quelle vorbei. An der Quelle saß die Setut mit einem Filter (= achavbell für Kuskus). M'hammed Asserdun war durstig. Er sagte zu der alten Setut: ,,Gib mir zu trinken." Die Alte reichte ihm Wasser im Filter. Das Wasser rann unten heraus. M'hammed Asserdun ward zornig. Er schlug die Alte, daß sie hinfiel. Die Setut sagte: ,,Wenn du ein Mann wärst, würdest du nicht eine alte Frau schlagen, sondern den Wuarssen aufsuchen und deine Schwester und Brüder befreien."

M'hammed Asserdun ritt nach Hause. Er legte sich auf das Lager. Er und trank nicht. Die Eltern fragten ihn: ,,Was fehlt dir ? Bist du krank? Was wünschst du ?" M'hammed Asserdun sagte: „Die

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Setut soll mir etwas Heißes bereiten." Die Setut kam. Sie bereitete ihm ein heißes Getränk. Auf dem Getränk schwamm ein kleines Stückchen Kohle. M'hammed Asserdun sagte: ,,Nimm dies her- aus!" Die Alte wollte die Kohle mit dem Finger herausnehmen. M'hammed Asserdun hielt ihre Hand über dem kochenden Wasser fest und sagte: „Entweder du sagst mir die Richtung (= djiha, d. i. die Richtung, in der der Wuarssen wohnt), oder ich verbrühe deine Hand." Die Setut zeigte mit der Hand: ,,In dieser Richtung wohnt der Wuarssen."

M'hammed Asserdun stand auf. Er ging zum Schmied ( = ach'- der) und ließ sich eine Keule ( = debus) im Gewicht von zwei Ochsen machen. Als die Keule fertig war, warf er sie in die Luft und fing sie mit dem Ellbogen auf. Die Keule zersplitterte an sei- nem Ellbogen. M'hammed Asserdun ließ sich eine stärkere Keule machen. Sie zerbrach. Keiner konnte eine Keule machen, wie M'hammed Asserdun sie gebrauchte. Als er das sah, riß er sich den größten Baum des Landes aus und nahm diesen als Keule. Dann nahm er aus dem Hause einen Akufi ( = mannhoher Speichertopf) als Eßbeutel auf den Rücken und machte sich auf den Weg.

Nachdem er weit gewandert war, kam er eines Tages zu einem Schafhirten mit seiner Herde. M'hammed Asserdun sagte zu dem Schafhirten: ,, Kannst du mir den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der unsere Schwester geraubt hat?" Der Schafhirt sagte: ,,Ja, den Weg kenne ich, denn ich bin der Diener des Wuarssen. Deine Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne dich aber. Sieh diesen Widder. Nur wenn du den aufzuheben vermagst, wirst du deine Schwester wiedergewinnen können. Denn jeden Morgen kämpft der Wuarssen mit dem Widder, ohne daß einer den andern zu besiegen vermag. Wenn du den Widder nicht besiegen kannst, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Der Widder rannte heran. M'hammed Asserdun fing ihn mit einer Hand auf und verschlang ihn. Dann ging er weiter.

M'hammed Asserdun kam in ein anderes Land. Da traf er einen Ochsenhirten mit seiner Herde. M'hammed Asserdun sagte zu dem Ochsenhirten: ,, Kannst du mir den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der meine Schwester geraubt hat?" Der Ochsenhirt sagte: ,,Ja, den Weg kenne ich; ich bin der Diener des Wuarssen. Deine Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne dich aber. Sieh diesen Stier.

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Nur wenn du den aufzuheben vermagst, wirst du deine Schwester wiedergewinnen können. Denn jeden Morgen und jeden Abend kämpft der Wuarssen mit dem Stier, so daß die Mauern einstürzen, ohne daß einer den andern zu besiegen vermag. Wenn du den Stier nicht zu besiegen vermagst, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Der Stier rannte heran. M'hammed Asserdun fing ihn mit dem Ellbogen auf, er packte und verschlang ihn. Dann ging er weiter.

M'hammed Asserdun kam in ein anderes Land. Da traf er einen Hühnerhirten mit seiner Herde. Er sagte zu dem Hühnerhirten: ,, Kannst du mir den Weg zu dem Wuarssen zeigen, der meine Schwester geraubt hat?" Der Hühnerhirt sagte: ,,Ja, den Weg kenne ich; ich bin der Diener des Wuarssen. Eure Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne dich aber. Sieh diesen Hahn. Nur, wenn du den aufzuheben vermagst, wirst du deine Schwester wiedergewinnen können. Denn jeden zweiten Tag kämpft der Wuarssen vom Morgen bis zum Abend mit ihm. Einen Tag kämpft er mit ihm. Einen Tag führe ich den Hahn zur Weide. Sie kämpfen stets miteinander, ohne daß einer den andern besiegen kann. Wenn du den Hahn nicht besiegen kannst, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen überhaupt erst zu beginnen." Der Hahn sträubte die Federn und rannte auf M'hammed Asserdun zu. M'hammed Asserdun fing ihn mit der Schulter auf. Er packte und verschlang ihn; dann ging er weiter.

M'hammed Asserdun kam in den Garten. Er sah die Melonen, die Quelle und die Negerin. Er fragte die Negerin: ,, Kannst du mir den Weg zu dem Wuarssen zeigen?" Die Negerin sagte: „Ja, den Weg kenne ich, ich bin eine Negerin des Wuarssen. Deine Schwester ist noch bei dem Wuarssen. Ich warne dich aber. Sieh diesen großen Korb voll Melonen und diesen Ledersack voll Wasser. Nur, wenn du die gesamten Melonen essen und den Ledersack austrinken kannst, wirst du auch deine Schwester gewinnen können. Denn jeden Morgen verzehrt der Wuarssen diese Melonenmenge und trinkt den Ledersack leer. Wenn du das nicht kannst, lohnt es sich nicht, den Kampf mit dem Wuarssen erst zu beginnen." M'hammed Asserdun führte den Korb mit den Melonen zum Munde und ver- schlang ihn mitsamt den Früchten. Er setzte den Ledersack an den Mund, trank ihn aus und verschluckte aus Versehen dann auch noch den Sack. Als die Negerin das sah, sagte sie: ,,Da drüben steht das Haus des Wuarssen."

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M'hammed Asserdun kam an das Haus. Am Hause hingen drei Schlagkeulen. M'hammed Asserdun betrachtete sie und sagte: „Hier müssen meine Brüder sein, denn auf den Keulen sind die Marken meines Vaters." M'hammed Asserdun setzte seinen Akufi nieder und lehnte den Baum, der seine Debus war, neben die kleinen Schlagkeulen der Brüder an das Haus. M'hammed Asserdun trat in das Haus.

Der Wuarssen war nicht daheim. Nur die Schwester war im Hause. Die Schwester erschrak und fragte: ,,Wer bist du ?** M'ham- med Asserdun sagte: ,,Ich bin M'hammed Asserdun, dein Bruder, der geboren wurde, als meine Eltern von der Suche nach deinen drei andern Brüdern heimkehrten. Sind meine Brüder hier?" Die Schwester sagte: ,,Ja, unsere Brüder sind hier. Sie sind im Brunnen- schacht eingeschlossen. Geh weg, mein Bruder M'hammed Asser- dun; der Wuarssen wird dich sonst vernichten." M'hammed Asser- dun sagte: ,,Dies hat keine Eile. Bereite mir das Essen. Ich habe heute noch nichts zu mir genommen, als ein paar Melonen."

Der Wuarssen kam abends zu seinem Hause zurück. Er sah am Hause die Keule und den Akufi M'hammed Asserduns. Der Wuars- sen versuchte die Keule M'hammed Asserduns aufzuheben. Er ver- mochte es nicht. Der Wuarssen trat in das Haus. Der Wuarssen sah M'hammed Asserdun und sagte: ,,Du bist wohl auch ein Bruder dieser Frau. Dann sollst du mir gegrüßt sein. Gehe aber aus diesem Raum; es schickt sich nicht, daß du mit meiner Frau in einem Raum bist." M'hammed Asserdun blieb sitzen und sagte: ,,Ich bleibe, wo ich bin." Der Wuarssen sagte: ,,Ich sehe, du bist wirklich der einzige, der hier furchtlos bleibt."

Nach einiger Zeit hatte die Schwester das Essen bereitet und stellte es hin. Der Wuarssen sagte: ,,Wie wollen wir es machen? Einer wird essen. Der andere soll um das Haus gehen. Wenn ich schneller esse, als du um das Haus kommst, oder du langsamer ißt, als ich um das Haus komme, will ich dich verschlingen. Welches willst du?" M'hammed Asserdun sagte: ,, Ich esse." Der Wuarssen ging heraus. M'hammed Asserdun schluckte das ganze Essen hin- ter und rief: ,, Wuarssen, komm schnell zurück und gib mir weitere Nahrung!" Der Wuarssen kam erstaunt herein. Der Wuarssen sagte: ,,Was, du hast schon alles aufgegessen?" M'hammed Asser- dun sagte: ,,Ja, gib mir schnell mehr, ich bin hungrig."

Der Wuarssen sagte: ,,Wir wollen miteinander fechten. Wenn ich dich besiege, werde ich dich verschlingen. Wollen wir kämpfen

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mit Kopfstoß, mit Faustschlag oder mit Säbeln?" M'hammed Asserdun sagte: ,,Rede wie ein Verständiger, natürlich will ich kämpfen. Aber meine Schwester und meine Brüder sollen dabei sein. Bring also meine Brüder her!" Der Wuarssen sagte: ,,Gut, sie sollen deine Schande mit ansehen!" Der Wuarssen befreite die drei Brüder aus dem Brunnenschacht. Er rief auch die Schwester herbei. Die drei Brüder kamen ganz mager, mager wie die Eisen- nägel, heran.

M'hammed Asserdun sagte: ,,Vor dem Kampf will ich mir die Zähne reinigen. Ich pflege das mit meiner Schlagkeule zu tun. Wuarssen, bringe mir meine Schlagkeule herein." Der Wuarssen ging heraus. Er versuchte wieder, den Baum, der M'hammeds Schlagkeule war, zu heben. Er vermochte es nicht. Da wurde ihm die Stärke M'hammed Asserduns klar. Er wollte fliehen. M'ham- med Asserdun sprang aber hinter ihm her, packte ihn und sagte: ,,Komm und kämpfe, womit du willst. Ich werde dir nur einen Schlag versetzen." Sie traten einander gegenüber.

Der Wuarssen stürzte auf M'hammed Asserdun zu. M'hammed Asserdun packte ihn und warf ihn mit einem Schlage nieder; als der Wuarssen von dem Schlag stürzte, gab es eine Erschütterung, daß sieben Mauern einstürzten. M'hammed Asserdun schnitt dem Wuarssen den Kopf ab. Dann sagte er zu seiner Schwester und seinen drei Brüdern: ,,Nun kommt mit mir heim." Die Schwester und die drei Brüder waren über die Maßen froh. Sie packten alle Schätze des Wuarssen zusammen und machten sich auf den Heim- weg.

Als er daheim ankam, sagte er zu seinem Vater: ,,Mit den Schätzen des Wuarssen habe ich wohl alles zurückerstattet, was ich dir weggegessen und an Pferden zerstört habe. Nimm deine andern Kinder wieder zu dir!" Da entstand große Freude, und der Vater veranstaltete ein großes Fest. M'hammed Asserdun sagte aber zu seinen Brüdern und seiner Schwester: ,, Meine Schwester und meine Brüder! Ich habe meine Pflicht getan. Ich sehe aber, daß dies Land mich nicht ernähren kann." M'hammed Asserdun nahm seinen Akufi auf den Rücken, seine Debus über die Schulter und ging von dannen.

'hammed Asserdun wanderte weit fort. Eines Tages kam er zu . einem Manne, der mit seiner Unterlippe einen Fluß aufhielt soweit reichte sie herab. Die Oberlippe hatte er aber über den Kopf

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geschlagen, und damit reichte er bis weit über den Rücken zur Erde herab. Der Lippenmann sah M'hammed Asserdun und fragte ihn: „Wohin gehst du?" M'hammed Asserdun sagte: ,,Ich suche ein Land, das mich ernähren kann." Der Lippenmann sagte: ,,Ich bin dein Mann, ich komme mit dir." Der Lippenmann stand auf und schloß sich M'hammed Asserdun an.

M'ham.med Asserdun und der Lippenmann wanderten weiter fort. Eines Tages kamen sie zu einem Mann, der hatte so riesengroße Ohren, daß er mit dem einen sich vollkommen als Kleidung be- decken und das andere als Lagerunterlage benutzen konnte. Der Ohrenmann sah M'hammed Asserdun und seinen Begleiter und fragte: ,, Wohin geht ihr?" M'hammed Asserdun sagte: ,,Ich suche ein Land, das mich ernähren kann." Der Ohrenmann sagte: ,,Ich bin dein Mann; ich komme mit dir." Der Ohrenmann stand auf und schloß sich M'hammed Asserdun und dem Lippenmann an.

M'hammed Asserdun, der Lippenmann und der Ohrenmann wan- derten weit fort. Eines Tages kamen sie zu einem Manne, der hatte in seinem Bart eine Herde Schafe. Mit seinem Rücken lehnte er aber an einem Berg, der wäre, wenn er nicht so gestützt worden wäre, vornüber gestürzt und hätte ein Dorf begraben, das an seinem Fuße lag. Der Bartmann sah M'hammed Asserdun und seine Be- gleiter und fragte: ,, Wohin geht ihr?" M'hammed Asserdun sagte: ,,Ich suche ein Land, das mich ernähren kann." Der Bartmann sagte: „Ich bin dein Mann, ich komme mit dir." M'hammed Asser- dun riß ein paar Bäume aus und stützte mit ihnen den Berg. Der Bartmann stand auf und schloß sich M'hammed Asserdun, dem Lippenmann und dem Ohrenmann an.

M'hammed Asserdun und seine Begleiter wanderten weiter und kamen eines Tages in einen riesenhaften Wald, in dem herrschte Luasch über alle Tiere. Luasch wohnte unter der Erde (= l'rhar). Luasch war aber ausgegangen und nicht daheim. M'hammed Asser- dun und seine Kameraden gingen in die Wohnung hinein. M'ham- med sagte zu seinen Kameraden: ,,Hier wollen wir Wohnung neh- men. Einer von uns soll tagsüber daheim bleiben und für die andern das Essen kochen. Die andern drei sollen auf die Jagd gehen."

Am andern Tage blieb der Lippenmann daheim und M'hammed Asserdun ging mit den beiden Kameraden tagsüber auf die Jagd. Der Lippenmann bereitete sechs Schüsseln mit Kuskus. Als er gerade damit fertig war, kam Luasch. Luasch sagte: ,, Soll ich dich oder soll ich das Essen verschlingen, das du bereitet hast?" Der

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Lippenmann erschrak und sagte: ,,Nimm den Kuskus!" Luasch verschlang allen Kuskus und ging. Der Lippenmann kratzte nun allen Kuskus aus den Kochtöpfen zusammen, der noch darin ge- blieben war. Es war sehr wenig. Als M'hammed Asserdun und die Kameraden nach Hause kamen, fragte er: ,,Ist das alles, was du bereitet hast?" Der Lippenmann sagte: ,,Ich verstehe mich nicht auf die Kuskusbereitung."

Am andern Tage blieb der Ohrenmann daheim, und M'hammed Asserdun ging mit den andern Kameraden tagsüber auf die Jagd. Der Ohrenmann bereitete sechs Schüsseln mit Kuskus. Als er ge- rade damit fertig war, kam Luasch. Luasch sagte: ,,Soll ich dich, oder soll ich das Essen verschlingen, das du bereitet hast?" Der Ohrenmann erschrak und sagte: ,,Nimm den Kuskus!" Luasch verschlang allen Kuskus und ging. Der Ohrenmann kratzte nun allen Kuskus aus den Kochtöpfen zusammen, der darin geblieben war. Es war aber sehr wenig. Als M'hammed Asserdun mit den Kameraden nach Hause kam, fragte er: ,,Ist das alles, was du be- reitet hast?" Der Ohrenmann sagte: ,,Ich verstehe mich nicht auf die Kuskusbereitung."

Am andern Tage blieb der Bartmann daheim, und M'hammed Asserdun ging mit den andern Kameraden tagsüber auf die Jagd. Der Bartmann bereitete sechs Schüsseln Kuskus. Als er gerade da- mit fertig war, kam Luasch. Luasch sagte: ,,Soll ich dich, oder soll ich das Essen verschlingen, das du bereitet hast?" Der Bartmann erschrak und sagte: ,,Nimm den Kuskus!" Luasch verschlang allen Kuskus und ging. Der Bartmann kratzte nun allen Kuskus aus den Kochtöpfen zusammen, der noch darin geblieben war. Es war sehr wenig. Als M'hammed Asserdun mit den Kameraden nach Hause kam, fragte er: ,,Ist das alles, was du bereitet hast?" Der Bartmann sagte: ,,Ich verstehe mich nicht auf die Kuskus- bereitung."

Am andern Tage blieb M'hammed Asserdun daheim, und die drei Kameraden gingen tagsüber auf die Jagd. Der Lippenmann, der Ohrenmann und der Bartmann sprachen unterwegs zueinander und erzählten sich, wie es mit dem Kuskus und Luasch gekommen war. Sie sagten untereinander: ,,Wir werden heute wieder hungrig zu Bett gehen, denn auch M'hammed Asserdun wird den Kuskus dem Luasch geben müssen."

M'hammed Asserdun bereitete 32 Schüsseln Kuskus. Als er ge- rade damit fertig war, kam Luasch. Luasch sagte: ,,Soll ich dich,

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oder soll ich das Essen verschlingen, das du bereitet hast?" M'ham- med Asserdun sagte: „Ich bin M'hammed Asserdun! Sieh dir die Leute an, mit denen du sprichst!" Luasch sagte: ,,Ich bin Luasch. Ich weiß, du stammst vom Maulesel !'* M'hammed Asserdun sprang auf. Er stürzte sich auf Luasch. Er konnte Luasch nicht nieder- werfen. Sie kämpften miteinander. Mauern stürzten, Bäume brachen zusammen. Alle Tiere im Walde schrien vor Angst.

Kämpfend kamen beide auf einen Berg ( = issil). Auf dem Berge stürzten beide. M'hammed Asserdun und Luasch rollten sich über- schlagend den Berg herunter. Sie stürzten ringend einen Abgrund herab. Unten kam M'hammed Asserdun auf Luasch zu liegen. M'hammed Asserdun nahm seinen Säbel und schnitt Luasch den Kopf und den Bart ab. Aus dem Bart Luaschs machte sich M'ham- med Asserdun ein Armband. Den Kopf nahm er heim. Als er in das Haus kam, warf er den Kopf unter die Wassertöpfe.

Der Lippenmann, der Ohrenmann und der Bartmann kamen heim. Sie sahen die 32 Schüsseln mit Kuskus. Sie sagten unter- einander: ,, M'hammed Asserdun hat Glück. Luasch ist heute nicht gekommen." M'hammed Asserdun und seine Kameraden aßen sich satt. Dann sagte M'hammed Asserdun zu dem Lippenmann: ,,Nun gehe du hin zu den Wasserkrügen und bring uns zu trinken." Der Lippenmann ging. Er kam zu den Wasserkrügen. Er sah den Kopf Luaschs. Er erschrak so, daß er taumelte. Er fürchtete sich, die Krüge zu ergreifen. Er kam zurück und sagte: ,,Ich habe mich an einem Stein gestoßen."

M'hammed Asserdun sagte zum Ohrenmann: ,,Dann gehe du zu den Wasserkrügen und bring uns zu trinken." Der Ohrenmann ging. Er kam zu den Wasserkrügen. Er sah den Kopf Luaschs. Er erschrak so, daß er taumelte. Er fürchtete sich, die Krüge zu er- greifen. Er kam zurück und sagte: ,,Ich habe mich an einem Stein gestoßen."

M'hammed Asserdun sagte zum Bartmann: ,,Dann geh du zu den Wasserkrügen und bring uns zu trinken." Der Bartmann ging. Er kam zu den Wasserkrügen. Er sah den Kopf Luaschs. Er er- schrak so, daß er taumelte. Er fürchtete sich, die Krüge zu er- greifen. Er kam zurück und sagte: ,,Ich habe mich an einem Stein gestoßen."

M'hammed Asserdun sagte: ,,Dann werde ich selbst zu den Wasserkrügen gehen und uns etwas zu trinken bringen." Er ging hin. Mit der einen Hand ergriff er einen großen Wasserkrug, mit

; Frobenius, Atlantis II. Band

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der andern den Kopf Luaschs. Er kam mit dem Wasserkrug und mit dem Kopf Luaschs zurück. Er warf den Kopf Luaschs zwischen die drei Kameraden. Der Lippenmann, der Ohrenmann und der Bartmann sprangen entsetzt zur Seite. M'hammed Asserdun aber sagte: „Ich werde heute nacht noch mit euch zusammenbleiben. Morgen werden wir uns aber trennen. Ich werde allein das Land suchen, das mich ernähren kann. Ihr aber seid keine Kameraden meiner Art. Geht eures Weges." Am andern Tage nahm M'ham- med Asserdun seinen Akufi auf den Rücken und seinen Debus auf die Schulter und zog allein weiter.

7. Der Wuarssentöter

Ein Mann hatte drei Söhne und eine Tochter. Die Tochter spielte eines Tages, als sie schon erwachsen war, im Freien vor dem Gehöft; da kam ein Wuarssen, packte und nahm sie mit zu sich, um sie zu heiraten. Der Vater und die Mutter des Mädchens hörten von nun an nichts mehr von der Tochter.

Eines Tages waren die ältesten beiden Brüder herangewachsen, und als sie glaubten, starke und geschickte Burschen zu sein, machten sie sich auf den Weg, ihre Schwester zu suchen. Nach einer langen Wanderung kamen sie dann gegen Abend an das Haus des Wuarssen, und dieser war auch zu Hause und lud die beiden Brüder zum Essen ein. Das Essen bestand aber aus einem gebratenen Ochsen, einer Schlafmatte voll Kuskus und einem Akufin (= Speichertopf) voll Wasser. Der Wuarssen sagte: ,,Ich gehe aus dem Hause und gehe einmal um das Gehöft. Ich hoffe, daß, wenn ich wiederkomme, das gesamte Essen und Getränk ver- zehrt ist."

Die beiden Brüder saßen vor dem gebratenen Ochsen, vor der Schlafmatte voll Kuskus und dem Speichertopf voll Wasser und sagten: ,,Das ist für uns unmöglich." Der Wuarssen kam von seinem Wege um das Haus zurück und sagte: ,,Was, ihr habt noch gar nicht angefangen? Ihr habt das Essen noch nicht verzehrt?" Danach setzte er sich hin, den Ochsen und den Kuskus und trank das Wasser, so daß von dem ganzen aber auch nicht ein Happen und nicht ein Schluck übrig blieb. Nachdem er sich derart gesättigt hatte, erhob er sich und sagte: ,,Nun wollen wir kämpfen." Zaghaft erhoben sich die beiden Brüder. Der Wuarssen ergriff sie, einen nach dem andern, und warf sie ohne weiteres auf den Boden.

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Dann ergriff er sie beide, jeden mit einem Arm, und steckte sie in einen der Speicherkrüge.

Der jüngste der drei Söhne war noch klein, als die beiden älteren Brüder fortgingen, die Schwester zu suchen. Der jüngste war schon von Geburt an ein ungemein starkes Kind. Am Tage, als er ge- boren wurde, er ein Brot. Am zweiten Tage verzehrte er zwei Brote, am dritten Tage drei. Als er groß und stark war, fragte er einmal seine Mutter: ,,Habe ich denn keine Geschwister?" Die Mutter sagte: ,,Du hattest eine Schwester, die hat ein Wuarssen ge- raubt, als du eben erst geboren warst. Dann hast du zwei ältere Brüder gehabt, die sind beide aufgebrochen, deine Schwester zu suchen. Sie sind nicht wiedergekommen; der Wuarssen wird sie ge- fressen haben."

Am andern Tage ging der Jüngste zum Schmied. Er ließ sich vom Schmied eine Debus ( = Keule) machen, die war so schwer, daß kein Mensch sie aufheben konnte. Die Debus hing er über die Schulter, nahm von seiner Mutter Abschied und machte sich auch auf den Weg, den Wuarssen zu suchen. Er wanderte lange dahin und kam endlich an dessen Gehöft.

Der Wuarssen war daheim. Sein Abendessen war bereitet; es be- stand aus einem im ganzen zubereiteten Ochsen, aus einer Matte voll Kuskus und einem Akufin voll Wasser. Ehe der Jüngste in das Haus trat, warf er draußen seine Debus auf die Erde. Als der Wuarssen den Jüngsten sah, begrüßte er ihn und sagte: ,,Dort steht das Abendessen. Ich werde einmal um mein Gehöft gehen. Ich hoffe, daß, wenn ich zurückgekommen sein werde, du alles ver- zehrt haben wirst." Damit verließ der Wuarssen die Kammer. Der Jüngste sagte: ,,Das ist keine so große Sache." Er den Ochsen, genoß den Kuskus und leerte den Akufin voll Wasser. Als der Wuarssen zurückkam, war kein Happen und kein Schluck mehr für ihn übrig. Er sah das und sagte zum Jüngsten: ,,Komm, wir wollen kämpfen."

Der Jüngste stand auf und sagte: ,,Ja, wir wollen kämpfen. Mit den Fäusten oder mit Waffen?" Der Wuarssen sagte: ,,Mit Waf- fen." Der Jüngste sagte: ,,Dann geh hinaus, vor der Tür habe ich meine Debus hingelegt, bring sie mir herein." Der Wuarssen ging hinaus. Er sah die Debus. Er konnte sie aber nicht heben. Da kam er zurück und sagte: ,,Ich kann deine Debus nicht finden." Der Jüngste sagte: ,,Ich hoffe, daß die Kraft deiner Arme größer ist als die deines Augenlichtes." Er ging hinaus, hob die Debus auf, trat

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dann dem Wuarssen gegenüber und sagte: „Bist du bereit?" Der Wuarssen sagte: ,Ja, ich bin bereit." Der Jüngste erhob seine Keule und schlug den Wuarssen tot.

Der Jüngste befreite nun die Brüder aus dem Akufin. Er rief seine Schwester und sagte: „Kommt, meine Geschwister, ich will euch nun nach Hause bringen." Dann verließ er mit ihnen das Haus des Wuarssen und führte sie soweit, daß sie ganz nahe dem elterlichen Hause waren. Der Jüngste sagte: ,,Geht nun nach Haus, wir können nicht mehr zusammenbleiben, denn ihr und ich, wir sind zwei verschiedene Arten. Ich will mir jetzt die Erde ansehen. Lebt wohl." Der Jüngste bog seitwärts ab und in den Busch ein.

Nachdem der Jüngste eine Zeitlang gegangen war, begegnete er einem Manne, der hatte eine Unterlippe, die war so lang, daß sie bis auf die Erde herabreichte, so daß der Mann sich nicht zu bücken brauchte, wenn er trinken wollte. Der Jüngste sagte zu ihm: ,,Ich glaube, du bist der rechte Kamerad für mich. Komm mit!" Der Lippenmann ging mit. Nach einiger Zeit trafen sie einen Mann, der hatte einen riesenhaften Bart, der war so mächtig, daß er eine ganze Schafherde dahinter verbergen konnte. Der Jüngste sagte zu ihm: ,,Ich glaube, du bist der rechte Kamerad für uns. Komm mit!" Der Bartmann ging mit den beiden andern. Nach wieder- um einiger Zeit trafen sie einen Mann, der war so stark, daß er einen Baum mitsamt den Wurzeln aus der Erde reißen und auf seinem Kopfe heimtragen konnte. Der Jüngste sagte zu ihm: ,,Ich glaube, du bist der rechte Kamerad für uns. Komm mit!" Der Baumstarke ging mit den andern, so daß sie nun zusammen vier waren.

Nach einiger Zeit sagten der Lippenmann, der Bartmann und der Baumstarke: ,,Wir müssen einen Führer unter uns haben." Der Jüngste sagte: ,,So wählt einen Führer!" Der Lippenmann, der Bartmann und der Baumstarke sagten: ,,Der Stärkste soll der Führer sein!" Der Jüngste sagte: ,,So nehmt meine eiserne Debus. Jeder soll sie in die Luft werfen. Wenn die eiserne Debus dann auf die Erde zurückfällt, wird sie ein Loch schlagen. Derjenige, nach dessen Hochwurf die Debus das tiefste Loch schlägt, der soll unser Führer sein. Seid ihr einverstanden?" Der Lippenmann, der Bart- mann und der Baumstarke sagten: ,,Wir sind einverstanden."

Erst warf der Lippenmann. Er konnte die Debus etwas in die Höhe heben, so daß sie nur wenig hoch flog und beim Nieder- fallen nur eine flache Mulde in die Erde schlug. Ebenso war es, als der Bartmann und der Baumstarke warfen. Dann aber ergriff der

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Jüngste seine Debus, und der warf sie so hoch in die Luft, daß die andern drei sie gar nicht mehr sehen konnten. Als die Debus dann wieder herunterkam, fuhr sie so tief in die Erde hinein, daß man sie gar nicht sah, und daß das Loch, das sie geschlagen hatte, tiefer war als der tiefste Brunnen. Man mußte Arbeiter rufen, um sie wieder auszugraben. Als die ersten drei Werfer das sahen, sagten sie gemeinsam: ,,Der Jüngste muß unser Führer sein!" Der Jüngste sagte: ,,Gut, dann wollen wir in den Wald gehen und die Jagd pflegen." Der Lippenmann, der Bartmann und der Baumstarke waren einverstanden.

Die vier kamen in dem Walde bald an ein Haus, in dem einige Wuarssen lebten. Der Jüngste sagte: ,,Das ist ein gutes Haus für uns." Der Jüngste ging hinein und tötete die Wuarssen, dann richtete er sich mit seinen Kameraden darin ein. Der Jüngste s^igte: ,,In Zukunft werden wir es so machen, daß immer einer daheim bleibt und das Essen bereitet. Die andern drei gehen tagsüber in den Wald und jagen. Seid ihr damit einverstanden?" Die andern drei sagten: ,,Wir sind damit einverstanden."

So blieb denn jeden Tag einer daheim und bereitete für die andern drei das Essen. Einmal war die Reihe an dem Lippenmann. Er be- reitete wie gewöhnlich das Essen, und da es , als es fertig war, noch früh war, ging er nachher noch etwas vor das Gehöft und legte sich im Freien hin, um sich auszuruhen. Als er so dalag, kam ein Löwe, der brüllte und sagte: ,, Entweder du gibst mir das Essen, das du für dich und deine drei Kameraden bereitet hast, oder ich verschlinge dich!" Der Lippenmann erschrak und sagte: ,,Dann nimm nur lieber das Essen." Er brachte dem Löwen das Essen, und der ver- schlang es. Es blieb nichts übrig, und als die andern abends von der Jagd nach Hause zurückkehrten, fanden sie nichts zum Essen vor, und der Lippenmann sagte: ,,Als ich gerade fort war, brach ein Löwe ein, fraß alles und lief wieder fort. Ich konnte ihn nicht mehr einholen."

Am andern Tage blieb der Bartmann zu Hause. Und der Bart- mann kochte beizeiten, legte sich dann ins Freie und ruhte ein wenig aus. Wie am Tage vorher kam auch bald der Löwe, der brüllte und sagte: ,, Entweder du gibst mir das Essen, daß du für die andern drei gekocht hast, oder ich verschlinge dich." Der Bart- mann erschrak wie der Lippenmann, gab das Essen und berichtete, als abends die andern drei von der Jagd heimkehrten und kein Essen vorfanden, ebenso wie am Tage vorher der Lippenmann. Am dritten

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Tage hatte der Baumstarke die Küchenpflege, während der Jüngste mit dem Lippenmann und dem Bartmann zur Jagd fortgingen. Es kam aber geradeso wie an den beiden Tagen vorher, und als die heimkehrenden Jäger wieder kein Essen vorfanden, sagte der Baumstarke: ,,Ich hatte gerade einen kleinen Weg in den Wald ge- macht, um etwas Holz zum Brennen zu holen, als der Löwe kam, alles Essen mit sich nahm und so schnell von dannen lief, daß ich ihn nicht mehr einholen konnte." Der Jüngste sagte: ,, Morgen werde ich die Küche besorgen und ihr drei geht in den Wald."

Am andern Tage kochte der Jüngste, nachdem die andern weg- gegangen waren, das Essen. Nachdem er damit fertig war, legte er sich in das Freie, um etwas auszuruhen. Seine Debus legte er aber neben sich. Er lag noch nicht lange, so kam der große Löwe, brüllte und schrie: ,, Entweder du gibst mir das Essen, das du für dich und deine Kameraden bereitet hast, oder ich verschlinge dich !" Der Jüngste sagte: ,,Dann komm und verschlinge mich !" Der Löwe sprang dicht heran. Der Jüngste nahm seine Debus und schlug ihm das Genick durch. Als der Löwe tot war, schnitt er ihm den Kopf ab, warf den Körper in den Busch und legte das Löwenhaupt vor den Wasserkrug.

Die andern drei kamen nach Hause. Der Jüngste sagte: ,,Das Essen ist bereitet. In meiner Abwesenheit ist kein Löwe gekommen, um das Essen zu verschlingen. Kommt und eßt." Sie setzten sich alle vier um das Essen. Nach einiger Zeit sagte der Jüngste: ,,Ich habe Durst, schöpfe mir doch einer Wasser." Der Lippenmann ging. Er kam zu der Wasserurne, erschrak, als er den Löwenkopf sah, kam zurück und sagte: ,,Ich kann nicht recht sehen." Der Jüngste sagte: ,,Ein anderer kann vielleicht besser sehen!" Der Bartmann stand auf, ging hin, erschrak vor dem Löwenkopf, kam zurück und sagte: ,,In dem Kruge ist kein Wasser." Der Jüngste sagte: ,,Du hast in den falschen gesehen, es muß Wasser da sein, denn ich habe es selbst vorher noch gesehen!"

Der Baumstarke ging hinein, erschrak vor dem Löwenkopf, kam sogleich zurück und sagte: ,,Der Topf ist zerbrochen, es ist kein Wasser da." Da erhob sich der Jüngste, ging hin, nahm den Wasser- krug und stellte ihn neben die andern drei. Er nahm den Löwen- kopf, warf ihn zwischen sie und sagte: ,,Ihr seid zu schwach und zu furchtsam. Mit euch zusammen kann ich nicht leben."

Er nahm seine eiserne Debus und ging allein fort in den Wald.

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8. Der Drachenkampf (1. Form)

Ein Mann hatte sieben Frauen, von denen hatte jede einen Jungen. Als die sieben Burschen erwachsen waren, sagte der Mann eines Tages zu ihnen: ,, Jeder von euch soll seine eigene Mutter totschlagen. Wer von euch das nicht tut, der ist nicht mehr mein eigener Sohn. Ich erkenne ihn nicht mehr an." Sechs von den Burschen gehorchten ihrem Vater und erschlugen ihre Mutter. Der Jüngste aber vermochte es nicht, dem Befehle seines Vaters nach- zukommen. Der Vater sagte zu seinem Sohne: ,,Geh aus dem Hause, du bist nicht mehr mein Sohn." Der Jüngste sagte zu seiner Mutter: ,,Komm mit mir. Wir verlassen das Gehöft meines Vaters, ich werde für dich sorgen."

Der jüngste Sohn nahm seinen Säbel und zog sein Pferd aus dem Stalle. Er hatte zwei Löwen, die hatte er von Jugend an aufgezogen, und sie folgten ihm überall hin. Der Sohn verließ mit seiner Mutter das Haus seines Vaters. Die Löwen liefen hinter ihm her. Sie zogen in die Steppe. Mehrere Tage lang übernachteten sie im Freien. Eines Nachmittags sah der Bursche in der Entfernung ein Haus. Er hieß seine Mutter mit den Löwen zurückbleiben und nahm seinen Säbel. Er ging auf das Gehöft zu, und da er es offen fand, auch hinein. Der Bursche sah sogleich, daß die eine Seite des Gehöftes bewohnt war, die andere aber nicht. Er ging also in die leere Kam- mer, warf sich auf den Boden und ruhte aus. Er schlief ein. Als es Abend war, erwachte er von einem starken Geräusch. Er blickte durch einen Spalt der Haustür und sah, daß die Bewohner des Ge- höftes sieben Wuarssen waren, die soeben heimkehrten.

Einer der Wuarssen sah, daß die Tür zur entgegengesetzten Wohnung, in der der Bursche weilte, zugemacht war. Er rief also über den Hof hinüber: ,,Höre, du Fremder, du kommst uns gerade zurecht. Wir wollen mit dir kämpfen. Komm heraus." Der Bursche antwortete: ,,Das will ich schon tun. Aber es ist nicht recht, von mir, der ich allein bin, zu verlangen, daß ich gegen sieben auf einmal kämpfe. Geht also in euer Haus. Dann kommt einer nach dem andern heraus und kämpft einzeln mit mir." Die Wuarssen sagten: ,,Der Fremde hat recht. Es ist billig, daß einer gegen einen kämpft. Wir wollen in das Haus gehen und nur einen auf dem Hofe lassen. Den Burschen werden wir auch so bald in unserem Suppentopf haben."

Sechs der Wuarssen gingen in das Haus. Einer blieb draußen.

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Der Bursche trat ebenfalls mit seinem Säbel heraus. Der Wuarssen kam heran. Der Bursche ergriff seinen Säbel, schlug und trennte dem Wuarssen den Kopf vom Leibe. Der Bursche rief: ,,Der zweite Wuarssen soll herauskommen. Der zweite Wuarssen kam heran. Der Bursche ergriff seinen Säbel, schlug und trennte dem Wuarssen den Kopf vom Leibe. Er rief nach dem dritten, dem vierten, dem fünften und sechsten Wuarssen und schlug allen, einen nach dem andern, den Kopf ab.

Der Bursche rief: ,,Der siebente Wuarssen soll herauskommen." Der siebente Wuarssen kam. Der Bursche ergriff seinen Säbel und schlug. Er hatte aber nicht mehr so viel Kraft wie im Anfange, und sein Säbel war außerdem so schartig geworden, daß er neu ge- schliffen werden mußte. So vermochte er dem siebenten nicht wie den anderen mit einem Streich den Kopf vom Rumpfe zu schlagen, sondern er konnte ihm nur den Hals durchschlagen, so daß der Wuarssen wie tot hinfiel und der Kopf zur Seite hing. Dann nahm der Bursche den Wuarssen, trug ihn in die hinterste Kammer und schloß sie hinter sich zu.

Der Bursche ging im Hause umher und betrachtete den ganzen Reichtum (= tricha) der Wuarssen. Er sah, daß es ein Haus war, das sehr geeignet war, darin zu wohnen. Und somit ging er von dannen und rief seine Mutter und seine Löwen herbei. Alle richteten sich im Hause gut ein und lebten einige Zeit von den Vorräten, die die Wuarssen für sich selbst aufgespeichert hatten. Dann kam eine Zeit, in der das Korn in den Krügen ausging, und der Bursche mußte hinziehen und auf der Jagd Beute suchen. Der Bursche ging sehr viel auf die Jagd, und da die Löwen ihn immer begleiteten, so kam es, daß die Mutter viel im Gehöft allein war.

Eines Tages war der Sohn wieder auf der Jagd. Die Mutter ging allein im Hofe umher. Sie hörte aus einem Winkel stöhnen. Sie ging den Lauten nach und sah, daß die Laute aus einer Kammer kamen, die verschlossen war und die die Mutter noch niemals vor- her betreten hatte. Sie öffnete die Tür und blickte hinein. Da lag der Wuarssen am Boden, der verwundet war. Der Wuarssen jam- merte. Die Frau sah ihn leiden. Sie ging hin und brachte ihm von dem Fleische des Wildes, das ihr Sohn erlegt hatte. Sie pflegte ihn. Als sie ihren Sohn kommen hörte, schlich sie hinaus und schloß die Tür hinter sich, damit er nicht merke, wo sie gewesen sei.

Jeden Tag ging der Sohn mit seinen Löwen zur Jagd. Jeden Tag

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I

ging die Mutter zu dem Wuarssen hinein und pflegte ihn. Der Wuarssen kam wieder zu Kräften. Eines Tages war der Wuarssen genesen. Er sagte zu der Mutter: ,,Ich danke dir. Ich will dir geben, was du auch von mir wünschst, und wenn es mein eigener Kopf ist." Die Mutter sagte: ,,Ich will nicht deinen Kopf und ich will nicht dein Geld. Wenn du mir danken willst, so heirate mich." Der Wuarssen sagte: ,,Ich will dich sehr gern heiraten, aber ich fürchte deinen Sohn. Dein Sohn hat sechs Wuarssen getötet. Er hätte auch mich umgebracht, wenn an dem Tage sein Säbel nicht schartig geworden wäre. Trifft er mich, so wird er mich jetzt sicher töten. Dein Sohn wird mich umbringen." Die Mutter sagte: ,, Warte, ich werde meinen Sohn selbst töten."

Der Wuarssen heiratete die Mutter. Nachts sagte die Mutter: ,, Morgen werde ich meinen Sohn töten." Als am andern Morgen die Mutter erwachte und der Sohn sich aufmachen wollte zur Jagd, sagte sie: ,,Mein Sohn, du bist jetzt immer so viel fort. Ich habe dich jetzt niemals mehr bei mir. Jeden Tag reitest du zur Jagd. Heute bleibe nun einmal daheim. Ich bitte dich." Der Sohn sagte: ,,Gut, so will ich heute einmal daheim bleiben." Die Mutter sagte: ,,Ich danke dir, daß du mir diesen Tag schenkst. Nun wollen wir miteinander plaudern. Tu mir aber noch einen Gefallen. Diese beiden Löwen nehmen mir alle Ruhe. Ich bitte dich, sperre sie für heute einmal in die Baerka (= Olivenspeichertopf), so daß sie nicht immer zwischen uns herumstreifen." Der Bursche rief die Löwen in das Haus, hieß sie in die Baerka steigen, ermahnte sie zur Ruhe und sagte: ,, Bleibt ruhig hier liegen, bis ich euch rufe." Dann deckte er die Baerka zu. Er kehrte zur Mutter zurück und sagte: ,,Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Die Löwen sind in der Baerka."

Die Mutter plauderte mit dem Burschen. Die Mutter sagte: ,,Wir wohnen hier sehr einsam. Stets, wenn du fort bist, sorge ich mich. Wenn jemand uns überfallen will, sind wir ihm preisgegeben." Der Sohn sagte: ,, Ängstige dich nicht, ich bin stark." Die Mutter sagte: ,, Gegen zwei oder drei magst du stark genug sein. Aber weißt du denn überhaupt, wie weit du dich auf deine Stärke verlassen kannst ? Kennst du denn das Maß deiner Stärke?" Der Sohn sagte: ,, Ge- wiß, ich kenne das Maß meiner Stärke." Die Mutter sagte: ,,Komm, erzähle mir." Der Sohn sagte: ,,Wenn man mich auf- recht mit den Haaren des Wirbels an einem Holzpfeiler festbindet und dann meine Hände nach hinten mit einem Tegust (Frauen-

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gurtschnur aus Wolle, sehr fest) festbindet, bin ich immer noch imstande, mich loszureißen. Bindet man mich in solcher Stellung aber mit einem Akursi (Frauengurtschnur aus Seide, noch viel fester), so kann ich mich nicht mehr losreißen."

Die Mutter sagte: ,,Es macht mir Freude, den Beweis deiner Stärke zu sehen. Darf ich dich mal mit einem Tegust festbinden?" Der Bursche sagte: ,,Tue es." Er stellte sich aufrecht an einen Holzpfeiler. Die Mutter band ihn mit den Haaren des Wirbels am Hinterkopfe fest. Er schlug seine Hände um den Holzpfeiler, und sie band sie hinten mit einem Tegust zusammen. Sie trat zurück und sagte: ,,Nun zeige mir deine Kraft." Der Bursche streckte sich, stemmte die Arme an und zersprengte die wollene Gürtelschnur. Die Mutter sagte: ,,Es ist wahr, deine Kraft ist ganz außerordent- lich. Sollte es aber doch nicht gelingen, auch die Akursi zu spren- gen?" Der Bursche sagte: ,,Nein, es wird nicht gelingen." Die Mutter sagte: ,,Darf ich das nicht auch sehen? Laß es uns ver- suchen." Der Bursche lachte und sagte: ,,Es ist mir recht."

Der Bursche stellte sich wieder aufrecht an den Holzpfeiler. Die Mutter band ihn mit den Haaren des Wirbels am Hinterkopfe fest. Er schlug seine Hände um den Holzpfeiler, und sie band sie hinten mit einem Akursi zusammen. Sie trat zurück und sagte: ,,Nun ver- suche nochmals deine Kraft." Der Bursche streckte sich und stemmte die Arme gegen den Pfeiler. Er vermochte sich nicht zu befreien. Die Mutter sagte: ,,Du vermagst dich also nicht zu ent- fesseln?" Der Sohn sagte: ,,Nein, ich vermag es nicht. Binde mich wieder ab." Die Mutter^sagte: ,, Warte einen Augenblick." Die Mutter lief fort.

Die Mutter lief in die Kammer, in der sich der Wuarssen befand. Die Mutter sagte zum Wuarssen: ,,Die Löwen meines Sohnes sind in der Baerka eingeschlossen. Mein Sohn ist mit dem Kopfwirbel und mit den Händen festgebunden. Er kann sich nicht bewegen. Komm schnell und töte ihn." Der Wuarssen trat aus der Kammer.

Der Bursche sah den Wuarssen kommen. Der Bursche erkannte, daß er verraten v/ar. Der Bursche sagte zum Wuarssen: ,,Ich werde doch gleich sterben. Erlaube mir noch einige Worte." Der Wuars- sen sagte: ,,Du wirst gleich sterben, also kannst du noch einiges sagen." Der Wuarssen blieb in einiger Entfernung stehen. Der Bursche sagte laut: ,, Meine Löwen, wenn ihr wüßtet, wie ich hier wehrlos angebunden bin, würdet ihr aufspringen und herkommen, um mich zu retten." Der Bursche sagte es. Die beiden Löwen

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sprangen in der Baerka gegen den Deckel und hoben ihn empor. Sie sprangen heraus und auf den Hof. Sie stürzten sich auf den Wuarssen und zerrissen ihn. Dann liefen sie zu dem Burschen, nagten mit den Zähnen die Akursi durch und lösten ihn so. Der Bursche dankte den Löwen.

Der Bursche ging in den Stall und zog sein Pferd heraus. Er führte es aus dem Gehöft. Er sprach kein Wort mehr, rief die Löwen, schloß die Gehöfttür ab, bestieg sein Pferd und ritt allein, gefolgt von den beiden Löwen, von dannen.

Der Bursche ritt weit von dannen. Seine Löwen folgten ihm stets nach. Eines Tages kam er an eine Stelle, an der entquoll der Erde eine Quelle. Die Quelle floß aber ganz schwach, denn es wohnte in der Quelle eine Schlange mit sieben Köpfen. In der Nähe war eine Stadt, deren Bewohner das Wasser der Quelle benötigten. Die Schlange überließ diesen das wenige, das dorthin floß, aber auch nur unter der Bedingung, daß jeden Tag ein junges Mädchen der Stadt der Schlange eine große Schale voll s'skoü (Kuskus, ge- sprochen s'sku) mit einer Hammelkeule brachte. Wenn das Mäd- chen die Hammelkeule brachte, verschluckte die Schlange das Essen mitsamt dem Mädchen. Die Mädchen mußten aber der Reihe nach das Essen bringen.

An dem Tage, als der Bursche mit den Löwen zur Quelle kam, war die Reihe, die Schlange zu speisen, an der Tochter des Amin der Ortschaft. Als der Bursche von der einen Seite heranritt, kam das Mädchen von der anderen. Der Bursche sagte: ,,Ich habe Hunger, du trägst dort reichlich Essen. Gib mir von dem Essen." Die Toch- ter des Amin sagte: ,, Verzeih mir, aber ich darf dir von dem Essen nichts geben. Es ist für eine siebenköpfige Schlange bestimmt, die in dieser Quelle wohnt und die das wenige Wasser, welches du dort zur Stadt rinnen siehst, auch nur unter der Bedingung spendet, daß jeden Tag ein Mädchen eine Schale Kuskus, eine Keule und sich selbst ihr zum Essen darbringt. Würde der Kuskus, die Keule oder das Mädchen der Schlange nicht dargebracht, so würde auch das wenige Wasser, welches die Bewohner der Ortschaft vor dem Verdursten schützt, von der Schlange zurückgehalten werden.**

Der Bursche sagte: ,, Meine Löwen und ich haben ebensolchen Hunger wie diese siebenköpfige Schlange. Uns kann die Schlange keinen großen Schrecken einjagen. Ich schlage dir also folgendes vor: Gib meinen Löwen die Keule, gib mir den Kuskus, und wir

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sorgen dann dafür, daß du nicht von der Schlange gefressen wirst, ohne daß die Bewohner deiner Ortschaft deshalb irgendeinen Scha- den erleiden sollen." Das Mädchen sagte: ,,Wenn du es so machen kannst, bin ich damit einverstanden."

Die Löwen fraßen die Keule. Der Bursche verzehrte den Kuskus. Dann sagte er zu dem Mädchen: ,,Nun setze dich hierher auf den Boden. Ich werde etwas schlafen und will meinen Kopf in deinen Schoß legen. Sobald die Schlange sich zeigt, wecke mich." Das Mädchen setzte sich nieder. Der Bursche legte seinen Kopf auf ihren Schoß und schlief ein. Als es Mittag war, erhob sich die Schlange in der Quelle. Sie streckte einen Kopf empor. Da er- schrak das Mädchen so, daß sie weinen mußte, und eine ihrer Trä- nen fiel in das Antlitz des Burschen. Der Bursche wachte auf, der Bursche sah die Schlange, der Bursche sprang auf.

Der Bursche sprang mit dem Säbel auf die Schlange zu und hieb ihr einen Kopf ab. Die Schlange sagte: ,,Das war nicht mein rechter Kopf." Der Bursche sagte: ,,Es war auch nicht mein rech- ter Hieb." Die Schlange erhob einen zweiten Kopf. Der Bursche hieb ihn ab. Die Schlange sagte wieder: ,,Das war auch nicht mein rechter Kopf." Und der Bursche sagte wieder: ,,Das war auch nicht mein rechter Hieb." Die Schlange hob so ihren dritten, vierten, fünften und sechsten Kopf hoch, und jedesmal, wenn der Bursche ihn abgeschlagen hatte, sagte sie: ,,Es war nicht mein rechter Kopf," worauf der Bursche jedesmal antwortete: ,,Es war auch nicht mein rechter Hieb." Als aber die Schlange auch den siebenten Kopf erhob und der Bursche auch den abgeschlagen hatte, sagte sie: ,,Das war mein rechter Kopf," und der Bursche antwortete: ,,Das war auch mein rechter Hieb." Die Schlange starb am Rande der Quelle, und sogleich begann die Quelle als ein breiter Strom nach der Stadt hinzufließen.

Das Mädchen sah dem Kampf weinend vor Angst zu. Als sie sah, daß der Bursche die Schlange tötete, nahm sie einen der beiden Schuhe, die er beim Schlafe abgestreift hatte und eilte damit in die Ortschaft zu ihrem Vater. Als der Bursche von "der Quelle und der Leiche der Schlange zurücktrat, fand er nur noch einen Schuh. Er schämte sich, mit dem einen Schuh zu gehen, steckte ihn also ein, bestieg sein Pferd, rief seine Löwen und ritt langsam dem Orte zu. Im Orte ging er in die Djemaa (= Moschee) und legte sich dort nieder.

Die Tochter kam zu ihrem Vater, dem Amin, und sagte: ,,Die

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Schlange hat mich nicht verzehren können, es kam ein Mann, der tötete sie. Sogleich floß das Wasser als breiter Strom; komm auf das Dach des Hauses und sieh es." Der Amin stieg mit der Tochter auf das Dach und sah das Wasser als breiten Strom fließen. Da war er froh, daß seine Tochter gerettet, die Stadt von dem schrecklichen Untier befreit und für die Zukunft reichlich mit Wasser versorgt war. Er sagte zu seiner Tochter: ,,Wer war der Mann, der die Schlange getötet und mir und der ganzen Stadt das Glück bereitet hat? Ich will ihn reichlich belohnen." Die Tochter sagte: ,,Ich weiß nicht, wer es war. Ich habe dem Mann aber einen Schuh ge- nommen. Nur der, der den anderen dazugehörigen aufweisen kann, ist der rechte."

Der Vater ließ alle Leute des Ortes zusammenkommen. Er sagte ihnen: ,,Ein Mann hat die siebenköpfige Schlange getötet, meine Tochter gerettet und der Stadt einen Überfluß an Wasser gespendet. Der Mann, der uns dieses Glück geschenkt hat, soll sich melden, denn ich will ihn reichlich belohnen." Die Leute warteten eine Zeitlang. Es meldete sich niemand. Ein Mann sagte: ,, Ich war es." Der Amin sagte: ,,Geh dorthin." Der Mann ging dorthin, ein Sklave zeigte ihm den Schuh und fragte: ,,Hast du den anderen?" Der Mann sagte: ,,Nein, ich habe nicht einen solchen." Der Sklave ging zum Amin und sagte: ,, Dieser ist nicht der Mann, der die siebenköpfige Schlange tötete." Der Amin sagte zu den Leuten: ,,Der Mann, der sich eben meldete, war nicht der Schlangentöter. Welcher ist nun der Schlangentöter?" Andere meldeten sich. Die anderen wurden aufgefordert, den fehlenden Schuh vorzuzeigen. Sie konnten es alle nicht.

Endlich sagte der Amin: ,, Keiner von denen, die sich meldeten, war der, der die siebenköpfige Schlange tötete. Ist denn sonst kein Mann in dem Orte, der es ausgeführt haben könnte, aber nicht unter uns ist?" Einer unter den Anwesenden erhob sich und sagte: ,,Ich sah einen Fremden ankommen. Er ist in der Djemaa; soll ich hin- gehen, ihn zu rufen?" Der Amin sagte: ,,Ja, gehe hin und rufe ihn." Der Fremde kam. Hinter ihm gingen zwei Löwen. Der Amin fragte: ,, Warst du es, der die Schlange getötet, meine Tochter gerettet und die Stadt von der Wassersnot befreit hat ?" Der fremde Bursche sagte: „Ich war es." Der Amin sagte: ,,Hast du keine Schuhe?" Der Bursche sagte: ,,Ich habe nur noch einen Schuh, das ist dieser, der andere ist mir abhanden gekommen." Er reichte dem Amin den Schuh. Der Amin ließ sich von dem Sklaven den

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anderen geben. Es war der rechte Schuh. Der Amin sagte: ,,Du hast die Schlange getötet."

Der Amin baute für den Burschen ein Haus. Der Amin gab ihm seine Tochter zur Frau. Der Bursche lebte sehr glücklich.

Eines Tages wurde der Bursche traurig. Er sagte zu seiner Frau: „Meine Frau, ich habe Sehnsucht nach meiner Mutter, die ich allein zurückgelassen habe. Ich will hinreiten und sehen, ob meine Mutter noch lebt." Der Bursche nahm Abschied. Er bestieg sein Pferd. Er ritt zurück zu dem Hause, in dem er die Wuarssen getötet und seine Mutter eingeschlossen hatte. Er klopfte an die Tür. Seine Mutter öffnete. Der Bursche öffnete das Haus und sagte: ,, Meine Mutter, ich hatte Sehnsucht nach dir, komm mit in mein Haus, ich habe die Tochter eines Amin geheiratet." Er ritt mit seiner Mutter zurück. Er erzählte seiner Mutter von dem Kampfe mit der Schlange. Als sie an der Stelle vorüberkamen, an der die tote Schlange lag, sagte seine Mutter: ,,Ich will die Köpfe besehen." Sie beugte sich nieder und brach heimlich die giftigen Zähne der Schlange heraus und versteckte sie in ihrem Gewände.

Der Bursche kam mit seiner Mutter in seinem Hause an. Die Mutter sagte zu der jungen Frau ihres Sohnes: ,,Ich war lange nicht mit meinem Sohne zusammen. Ich möchte mich heute nacht lange mit ihm unterhalten. Geh also für diese Nacht, laß mich mit mei- nem Sohne allein und schlafe du im Hause deines Vaters." Die junge Frau ging hinüber in das Haus ihres Vaters. Als der Sohn für eine Besorgung auf kurze Zeit die Kammer verlassen hatte, rieb die Mutter eine Stelle seines Lagers mit den giftigen Zähnen der Schlange ein.

Der Sohn kehrte zurück und streckte sich auf seinem Lager nieder. Er fühlte sofort einen großen Schmerz. Er fühlte den Schmerz des Giftes. Der Bursche starb .... Als die junge Frau, der Amin und die Leute am andern Tage kamen, fanden sie den Burschen tot auf seinem Lager. Sie wurden alle sehr traurig. Dann begruben sie den Burschen.

Als der Bursche nun nicht wieder kam, wurden die Löwen zornig. Sie gingen im Orte hin und her, und alle Leute flohen ent- setzt in die Häuser. Das ging so einige Tage. Dann sagte ein alter Mann: ,,Das geht so nicht weiter." Er ging vorsichtig heraus, machte den Löwen ein Zeichen, daß sie ihm schweigend folgen sollten und zeigte den Löwen den Weg nach dem Grabe des Bur-

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sehen. Er wies auf das frische Grab und entfernte sich. Die Löwen begannen sogleich zu scharren. Sie scharrten alle Erde weg. Sie zogen die Leiche des Burschen heraus. Sie begannen die Leiche abzulecken. Sie leckten die Stelle, wo der Bursche auf dem Schlan- gengift gelegen hatte, ganz rein. Als sie alles Gift abgeleckt hatten, begann der Bursche wieder zu leben, und er erhob sich. Die beiden Löwen starben aber sogleich, weil sie mit dem Lecken das Gift in sich aufgenommen hatten. Der Bursche begrub sie in dem Grabe, das für ihn aufgerissen war.

Nachdem der Bursche die beiden Löwen begraben hatte, begab er sich traurig nach Hause. In seinem Hause traf er seine Mutter, die ihn entsetzt anstarrte. Der Bursche sagte: ,,Ich danke dir. Ich danke dir. Ich danke dir." Er lachte höhnisch, ergriff seinen Säbel und schlug seine Mutter in Stücke.

9. Der Drachenkampf (2. Form)

Ein Mann heiratete eine Frau. Die gebar einen Sohn, den nannte er Ali. Eines Tages starb die Mutter dieses Ali, da heiratete der Mann eine Witwe, die brachte einen Sohn mit in die Ehe, der hieß auch Ali, und der zweite Ali war dem ersten Ali zu- dem noch so ähijlich, daß die Mutter ihren rechten Sohn von ihrem Stiefsohn nicht zu unterscheiden wußte und beide Alis ständig mit- einander verwechselte.

Da sie nun ihren Sohn nicht unter den beiden Alis herausfinden konnte, ging sie zu einem alten Mann und sagte: ,,Mein Stiefsohn und mein rechter Sohn heißen beide Ali. Sie sehen einander so ähn- lich, daß ich sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Wie kann ich es nun anfangen, daß ich meinen eigenen Ali vom Stief- ali unterscheide?" Der alte Mann sagte: ,,Nimm einen kleinen Topf mit Blut. Laß dich irgendwo in der Nähe, aber außer Sicht der beiden Ali, hinfallen, spritze das Blut um dich und schreie laut: ,Mein Sohn Ali ! Mein Sohn Ali ! Ein Ochse hat mich angerannt und verwundet!* Sofort wird einer der beiden Alis schneller als der andere Ali herzuspringen. Das ist dann dein Ali, der aber, der hinterher kommt, das ist der Stiefali." Die Mutter bedankte sich für den Rat und ging nach Hause.

Daheim füllte sie einen Topf mit Blut, ließ sich bei der ersten Ge- legenheit, als die beiden Brüder in der Nähe waren, hinfallen, spritzte das Blut um sich und schrie: ,,Mein Sohn Ali! Mein Sohn

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Ali! Ein Ochse hat mich angerannt und verwundet!" Sogleich lief der rechte Sohn Ali herbei, während der andere langsamer hinterher kam. Da merkte sie sich den rechten Ali und verlor ihn von dem Tage an nicht mehr aus dem Gedächtnis.

Von nun an unterschied die Frau die beiden Ali sehr sorgfältig. Dem eigenen Ali gab sie stets die beste Speise, dem anderen aller- hand Abfälle. Der eigene Ali wurde mit allen leichten Arbeiten be- traut, der Stiefali mit allen schwierigen. Je älter die Burschen wurden, desto besser wurde das Essen des rechten Ali und desto magerer das des Stiefali. Eines Tages nun, nachdem der Stiefali während einer Woche so gut wie nichts zu essen, desto mehr dafür aber zu arbeiten bekommen hatte, sagte er zu seinem Bruder: ,,Mein Bruder Ali, so wie es mir jetzt geht, kann das nicht weiter bleiben. Sieh selbst, was ich zu essen bekomme und sieh selbst, was ich arbeiten muß. Und das wird so immer schlimmer, immer schlim- mer werden, bis ich eines Tages wie ein alter verbrauchter Esel tot am Wege liegen werde.** Der rechte Ali weinte fast vor Trauer und sagte: ,,Mein Bruder Ali, was soll ich dabei tun? Sage mir, was ich tun kann! Soll ich meine Mutter töten?"

Der Stiefali beruhigte den rechten Ali und sagte: ,,Nein, mein Bruder, du sollst nichts Schlimmes und nichts wider die Natur Ge- richtetes tun. Du sollst die gute Pflege deiner Mutter in Ruhe weitergenießen. Ich aber will in die Ferne ziehen, weit fort, will mir selbst eine Stätte suchen, wo ich mich nach meinen Bedürf- nissen einrichte. Ehe ich nun aber fortziehe, will ich zwei Orangen- bäumchen pflanzen, eines für dich, eines für mich. Beobachte mein Bäumchen. Solange es mir gut geht, wird das Bäumchen grünen und frisch aussehen. Wenn das Bäumchen aber eines Tages welkt und die Blätter hängen läßt, dann, mein Bruder Ali, geht es mir schlecht, dann sieh zu, ob du irgend etwas tun kannst, um mir zu helfen." Damit nahm der Stiefali vom rechten Ali Abschied und zog von dannen.

A uf der Wanderschaft traf der Stiefali eines Tages Schäfer, die /^ ihre Hammelherden mit großer Mühe hüteten. Es lebte nämlich in der Gegend eine große und sehr starke Löwin, die brach jede Nacht in den Stall ein, schlug einige Hammel und schleppte ein Tier von dannen. Das erzählten die Hirten dem Ali, und sie fragten ihn, ob er ihnen vielleicht einen Rat geben könne, wie sie sich von dieser Plage befreien könnten. Ali dachte über die Sache nach und

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sagte dann zu den Hirten: „Was gebt ihr mir, wenn ich euch die Löwin töte und euch so die schwere Last nehme." Die Schäfer sagten: „Wir geben dir, wenn dir dies gelingt, täglich den Hammel, den sonst die Löwin mit weggeschleppt hat." Damit war Ali zu- frieden. Er legte sich nachts in das Gebüsch, und als die Löwin in die Hürde einbrechen wollte, fiel er über sie her und tötete sie mit einem Säbelstreiche. Er zog ihr die Haut ab und zeigte sie den Hirten. Die Schäfer waren sehr erfreut und dankten ihm. Sie schenkten Ali einen Teil der Herde. Ali sagte aber: ,, Hütet mir die Herde noch, ich bitte euch darum. Ich will noch weiter wandern, und bis ich zurückkomme, hütet meine Schafe mit den anderen.** Die Schäfer waren einverstanden, und der Stiefali zog mit der Löwenhaut weiter.

Nachdem Ali einige Tage lang gewandert war, kam er an eine Stelle, an der die Hirten eine große Ochsenherde weideten. Die Hirten lebten aber in ständiger Furcht; denn in der Gegend hauste ein mächtiger Eber, der fuhr jeden Abend in die Ochsenherde und schlitzte mit seinen Hauern einem Ochsen den Bauch auf. Die Hirten verloren aber derart nicht nur viel Vieh, sondern sie fürch- teten auch stets, selbst zerrissen zu werden. Sie klagten also Ali, als er mit seiner Löwenhaut zu ihnen kam, ihr Leid und fragten ihn, ob er ihnen einen Rat geben könne. Ali dachte eine Weile über die Sache nach und sagte dann: ,,Was gebt ihr mir, wenn ich euch von der Plage befreie und den Eber töte?** Die Hirten sagten: ,,Wir schenken dir einen Ochsen.** Der Stiefali sagte: ,,Es ist gut.** Er verbarg sich also abends im Gebüsch neben der Fährte des Ebers und wartete. Richtig kam nach einiger Zeit das ungeheure Tier, und Ali stürzte mit dem Säbel auf ihn und schlitzte ihm mit einem Hiebe den Bauch auf. Danach zog er dem Eber das Fell ab und ging in das Lager. Am andern Morgen zeigte er den Hirten das Fell. Die Hirten waren sehr erfreut, dankten ihm und schenkten ihm einen starken Ochsen. Ali sagte: ,,Ich bitte euch, treibt den Ochsen noch einige Zeit in eurer Herde weiter. Ich selbst will näm- lich noch ein wenig weiterwandern und werde mir meinen Ochsen erst dann, wenn ich zurückgekommen sein werde, ausbitten.** Die Hirten versprachen Ali, ihm den Ochsen hüten zu wollen, und Ali zog mit dem Löwenfell und der Eberhaut weiter.

Ali kam in die Gegend einer Stadt, bei der eine Quelle war, die aber von einer riesigen Schlange gehütet wurde. Diese Schlange ge- währte den Einwohnern der Stadt nur das allernotwendigste Weisser

6 Frobenius, Atlantis II. Band

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und auch dies nur unter der Bedingung, daß ihm jeden Tag ein junges Mädchen eine große Schale mit Kuskus mit einem Stück Fleisch darauf brachte. Wenn nun der Kuskus und das Fleisch der Schlange nicht genügten, so pflegte die Schlange das überbringende Mädchen mit zu verschlingen. Bei diesem Speisebringen lösten sich aber die Mädchen der Stadt untereinander ab.

Ali kam an die Quelle. Er wollte trinken, da kam gerade das Mädchen, das an diesem Tage die Aufgabe hatte, der Schlange das Essen zu bringen. Es war aber dies die Tochter des Landesfürsten (Sultan). Ali hatte großen Hunger. Er bat das Mädchen und sagte: ,,Gib mir von dem Kuskus ab." Die Fürstentochter antwortete: ,,Du bist ein Fremder und weißt deshalb nicht, was es mit diesem Kuskus für eine Bewandtnis hat. In dieser Quelle lebt eine riesige Schlange, und jeden Tag muß eine von uns Mädchen der Stadt dem Tiere eine solche Schale voll Kuskus und Fleisch darauf geben, da- mit die Schlange der Stadt das notwendigste Wasser abgibt. Ge- nügt der Kuskus und das Fleisch der Schlange nicht, so verschlingt die Schlange die Überbringerin. Du siehst also, daß ich in noch größere Lebensgefahr, als ich jetzt schon zu erdulden habe, kom- men würde, wenn ich dir von der Speise abgeben würde." Ali hörte aufmerksam zu, überlegte und warf dann sein Löwenfell und die Haut des Ebers hin.

Ali sagte: ,, Überlaß mir getrost den Kuskus. Es genügt, wenn wir der Schlange das Fleisch geben. Ich kann dir versprechen, daß wir die Schlange nicht zu fürchten haben werden. Ich habe die Löwin besiegt, ich habe den Eber überwunden, ich werde auch die Schlange töten, und dann seid ihr in der Stadt die Plage mit einem Male los." Das Mädchen weinte vor Angst; es gab aber dem Drän- gen Alis nach. Ali den ganzen Kuskus auf und sagte: ,,Ich bin vom Wandern etwas müde. Setze dich hierher, dicht an die Quelle, ich will meinen Kopf auf deinen Schoß legen und schlafen. Desto stärker bin ich dann für den Kampf mit der Schlange. Wecke du mich nur, wenn die Schlange kommt." Die Tochter des Fürsten setzte sich hin. Ali legte den Kopf in ihren Schoß und schlief so- gleich ein.

Ali schlief schon einige Zeit, da erhob die Schlange ihr Haupt aus der Quelle, ängstlich schreckte die Tochter des Fürsten zurück. Sie mochte aber Ali nicht wecken. Ihre Angst schwoll. Es traten ihr Tränen in die Augen. Eine große Träne fiel auf Alis Stirn. Ali er- wachte und erhob den Kopf. Ali sah die Schlange. Ali sprang auf,

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ergriff seinen Säbel, schlug und traf die Schlange, so daß sie jäh zurückschreckte. Die Schlange sagte: ,,Du hast mich nicht ge- troffen." Ali sagte: ,,Es war auch nicht mein rechter Hieb." Ali schlug wieder und traf wieder die Schlange, so daß diese jäh zurück- schreckte. Die Schlange sagte aber wieder: ,,Du hast mich nicht ge- troffen," worauf Ali entgegnete: ,,Es war auch nicht mein rech- ter Hieb." Das wiederholte sich sechsmal. Als Ali die Schlange das siebente Mal schlug, nahm er alle Kraft zusammen, und er traf die Schlange hart, so daß sie niedersank und sagte: ,, Jetzt hast du mich getroffen," worauf Ali entgegnete: ,,Das war auch mein rechter Hieb."

Die Schlange starb. Sowie sie gestorben war, begann das Wasser der Quelle stark zu rinnen, immer stärker und zuletzt als Fluß dahin- zufließen. Ali blickte auf das Wasser und ging ihm ein Stück weit nach. Er hatte aber seine Schuhe stehen gelassen. Als er sich ab- wendete, ergriff die Tochter des Fürsten schnell einen der Schuhe und schob ihn unter ihr Gewand. Dann nahm sie die leere Kuskus- schale und eilte der Stadt zu. Ali kam zurück. Das Mädchen war fort. Er suchte seine Schuhe, fand aber nur noch einen. Er steckte ihn ein, hing das Löwenfell und die Eberdecke um, ging auch in die Stadt und suchte das Haus eines Kaffeewirtes auf, bei dem er blieb.

Das Mädchen kam nach Hause. Der Fürst sah erstaunt, daß seine Tochter schon zurückgekehrt war. Er herrschte sie an und sagte: ,,Wie kommt es, daß du schon heim kommst, ehe es noch Abend ist, ehe du also deine Aufgabe ganz erfüllt hast? Bist du etwa aus Furcht entflohen?" Die Tochter des Fürsten sagte: ,, Glaube nicht so etwas von deiner Tochter. Ich wäre bei der Schlange bis zur Beendigung des Mahles und bis zum Abend ge- blieben und wenn sie mich verschlungen hätte. Die große Schlange, die uns das Wasser hemmt und die Mädchenspeisung fordert, ist aber soeben getötet worden !" Der Fürst erstaunte und sagte: ,,Was, die Schlange ist getötet worden? Wer hat dies vermocht?" Die Tochter sagte: ,,Das tat ein Mann, der mit einem Löwenfell und einer Eberhaut des Weges kam. Wenn du dich von der Wahrheit dessen, was ich sage, überzeugen willst, so geh auf das Dach des Hauses und sieh nach der Seite der Quelle. Du wirst sehen, sie fließt jetzt, wo die Schlange getötet ist, wie ein Fluß an der Stadt vorüber. Und wenn du den, der die Schlange getötet hat, erkennen willst, so nimm diesen Schuh, den ich ihm heimlich entwendet habe.

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Nur der kann der Besieger der Schlange sein, der den zweiten gleichen Schuh vorweist.**

Darüber war der Fürst sehr erfreut. Am andern Morgen rief er alle Männer der Stadt zusammen und sagte: ,,Die Schlange ist ge- tötet. Wir sind von unserer großen Plage befreit. Ich will den, der das getan hat, belohnen und frage euch deshalb, ob irgendeiner den kennt, der uns dies Gute angetan hat.** Nun war es keiner unter den Anwesenden. Sie fragten lange untereinander herum, fanden es aber nicht heraus. Endlich sagte der Wirt des Kaffeehauses: ,,Bei mir ist gestern ein Fremder angekommen, der sehr ermüdet war. Er legte sich sogleich zum Schlafe nieder und ist bis heute morgen nicht aufgewacht. Vielleicht weiß dieser Fremde etwas von der Sache.** Der Fürst sagte: ,,Gehe hin und rufe ihn.**

Ali kam. Ali trat vor den Fürsten. Der Fürst fragte ihn: ,,Hast du einen Schuh bei dir?** Ali zog den Schuh aus der Tasche und stellte ihn vor den Fürsten hin. Der Fürst stellte den Schuh, den seine Tochter ihm gebracht hatte, daneben. Beide Schuhe waren ein zusammengehöriges Paar. Der Fürst sagte: ,,Hast du die große Schlange getötet?** Ali sagte: ,,Ja, ich habe die große Schlange ge- tötet." Der Fürst sagte: ,,Du hast die ganze Stadt von einem großen Schrecken befreit. Ich danke dir. Ich will dir meine Tochter zur Frau geben.**

Ali heiratete die Tochter des Fürsten. Der Fürst wies ihm ein großes Haus an. Ali wohnte einige Zeit als glücklicher und allge- mein geachteter Mann bei dem Fürsten.

Der Fürst schenkte Ali ein Pferd und Hunde. Ali ritt also oftmals auf die Jagd. Eines Tages war er auch auf der Jagd im Walde und kam viel tiefer in den Wald hinein als sonst. Er verirrte sich. Am Abend kam er an ein Haus. Er klopfte. Da öffnete eine Frau, die sah bestürzt auf Ali und sagte: ,, Schnell eile hinweg und reite, so schnell du kannst, denn in diesem Hause wohnt ein Wuarssen als mein Gatte mit seinen Kindern. Und dieser Wuarssen tötet und ver- schlingt jeden Menschen, der ihm in den Weg kommt.** Ali sagte: ,,Ich habe nicht die Gewohnheit zu fliehen. Laß mich nur ruhig in das Haus eintreten!" Als die Frau sah, daß sie Ali nicht zur Flucht überreden konnte, sagte sie: ,,So merke dir wenigstens eines: Mein 'Mann, der Wuarssen, wird dich, wenn er nach Hause kommt und dich hier trifft, sicherlich zum Essen einladen und nach dem Essen zum Kampfe herausfordern. Er wird dir die Wahl zwischen einem

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Säbel mit einem goldenen Griff und einem Säbel mit einem hölzer- nen Griff lassen. Nimm den Säbel mit hölzernem Griff und schlag ihn damit über den Kopf. Schlage aber nur einmal und ja nicht öfter und vergiß nichts von all dem, was ich dir jetzt geraten habe." Ali versprach es.

Nach einiger Zeit kam der Wuarssen nach Hause. Als er Ali sah, lachte er über das ganze Gesicht und sagte: ,,Ich freue mich, dich bei mir zu sehen und bitte dich, mit mir zu essen!" Ali also mit dem Wuarssen. Nach dem Essen sagte der Wuarssen: ,,Wir haben eine alte Sitte; wir pflegen nämlich nach dem Essen mit denen, die mit uns gegessen haben, zu fechten. Hier habe ich nun zwei Säbel. Wähle einen für dich. Ich nehme den andern für mich. Mit den beiden Säbeln werden wir kämpfen." Der Wuarssen legte damit zwei Säbel hin, von denen der eine einen goldenen, der andere einen hölzernen Griff hatte. Ali betrachtete die Säbel und ergriff dann den mit dem hölzernen Griff. Der Wuarssen sagte: ,, Weshalb nimmst du den Säbel mit dem hölzernen Griff, nimm doch den mit dem goldenen Griff, er ist viel schöner." Ali sagte: ,,Der Säbel mit dem hölzernen Griff sagt mir mehr zu." Der Wuarssen sagte: ,,Nimm doch den anderen!" Ali sagte: ,, Ich habe gewählt." Der Wuarssen sagte: ,,So nimm den schöneren Säbel, denn du bist der Schönere von uns beiden." Ali sagte: ,, Ich habe gewählt. Komm!"

Der Wuarssen begann mit Ali zu fechten. Ali schlug mit dem Säbel den Wuarssen quer über den Kopf. Der Wuarssen sagte: ,, Schlage noch einmal!" Ali tat es nicht. Der Wuarssen sagte: , (Schlage noch einmal!" Ali tat es nicht. Der Wuarssen sagte: ,, Schlage noch einmall" Ali tat es nicht. Da fiel der Wuarssen zu Boden und starb. Ali aber ging dahin, wo die sieben jungen Wuars- sen waren und erwürgte sie.

Ali blieb einige Zeit im Walde und wohnte im Hause des Wuars- sen. Eines Tages war er wieder im Walde auf der Jagd und zündete sich ein Feuer an. Da näherte sich eine Schlange und sagte bittend: ,, Erlaube mir, daß ich mich an deinem Feuer erwärme !" Ali sagte: ,,Komm heran und wärme dich !" Die Schlange sagte: ,,Ich fürchte mich vor deinen Hunden und deinem Pferd. Ich bitte dich, binde sie an." Ali stand auf und band das Pferd und die Hunde an. Die Schlange kam. Sie wand sich um Ali und verschlang ihn ....

Seitdem der Stief ali das Haus seiner Mutter verlassen und sich auf die Wanderschaft begeben hatte, schaute sein Bruder alle Tage nach

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dem Orangenbäumchen, welches sein Stiefbruder vor seinem Ab- schiede gepflanzt hatte. Eines Morgens sah er, daß die Blätter herunterhingen und daß das Bäumchen verwelkt war. Der rechte Ali ging sogleich zu seiner Mutter und sagte: ,, Meine Mutter, mein Bruder Ali ist entweder gestorben oder es geht ihm schlecht. Ich schwöre dir bei Gott, daß ich mich sogleich aufmachen muß, nach ihm zu sehen. Versuche also nicht, mich aufzuhalten." Die Mutter sah, daß sie keinen Widerstand leisten konnte. Sie bereitete ihm Nahrung für den Weg. Ali sattelte sein Pferd, packte es, rief seine Hunde herbei, nahm von seiner Mutter Abschied und ritt von dannen.

Nach einiger Zeit kam der rechte Ali bei einigen Hirten vorbei, die eine große Schafherde hüteten. Als die den rechten Ali sahen, meinten sie, er sei jener Stiefali, der die Löwin getötet hatte, und sie riefen ihm ihren Gruß zu und sagten: ,,Ali, nimm deine Schafe mit." Der rechte Ali dankte für den Gruß und sagte: ,, Behaltet die Schafe noch ein wenig, ich komme sehr bald wieder vorüber und werde sie dann mitnehmen." Der rechte Ali ritt weiter und sagte für sich: ,,Ich sehe, ich bin auf dem Wege meines Bruders."

Wieder einige Zeit später kam der rechte Ali bei einigen Hirten vorbei, die eine große Rinderherde hüteten. Als die den rechten Ali sahen, meinten sie, es sei jener Stiefali, der den Eber getötet hatte, und sie grüßten ihn und riefen: ,,Ali, nimm deinen Ochsen mit." Der rechte Ali dankte für den Gruß und sagte: ,, Behaltet meinen Ochsen noch ein wenig, ich komme sehr bald wieder vorüber und werde meinen Ochsen dann mitnehmen." Der rechte Ali ritt weiter und sagte für sich: ,,Ich sehe also, daß ich immer noch auf dem Wege bin, auf dem mein Bruder fortgeritten ist."

Nach einiger Zeit kam der rechte Ali in die Stadt, in der sein Stiefbruder die Schlange getötet hatte, die das Quellwasser bis dahin zurückgehalten hatte und durch die Mädchen der Stadt täglich mit Kuskus und Fleisch hatte gefüttert werden müssen. Als der rechte Ali durch die Tore einritt, sahen ihn einige Männer, und sie stürzten auf ihn zu und küßten ihm die Hände und grüßten ihn und sagten: ,,Du, Ali, der du die Stadt von ihrem großen Unglück befreit hast, wir grüßen dich! Warum bliebst du so lange auf der Jagd? Wir hatten schon Sorge, du würdest nicht wiederkommen. Bleibe nicht wieder solange fort." Dann küßten die Leute ihn wieder. Und wo nun der rechte Ali durch die Straßen kam, begrüßten Männer und Frauen ihn auf die gleiche Weise. Viele aber sagten: ,, Reite nur

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gleich zum Fürsten, denn er hat große Sorge um dich." So drängten sie ihn zum Fürsten.

Ali kam zum Fürsten. Der Fürst kam dem rechten Ali entgegen und umarmte und küßte ihn. Der Fürst sagte: „Mein Sohn Ali, sei sehr beglückwünscht zu deiner Rückkehr. Warum bliebst du so- lange auf der Jagd ! Wir alle und deine Frau nicht zum wenigsten haben uns viel Sorge gemacht über dein langes Fernbleiben. Nun erst mit mir und ruhe dich ein wenig aus. Nach dem Abendessen magst du dann zu meiner Tochter, deiner Frau, hinübergehen." Der rechte Ali sagte bei sich: ,,Was hat mein Bruder alles voll- bracht!" — Der rechte Ali blieb aber lange bei dem Fürsten, und erst nach dem Abendessen konnte er ihn verlassen und in das Haus und zur Frau seines Bruders hinübergehen.

Der rechte Ali verließ den Fürsten. Der rechte Ali ging hinüber in das Haus, das der Fürst dem Stiefali errichtet hatte. Der rechte Ali betrat das Haus und trat in das Zimmer der Frau des Stiefali. Die Frau des Stiefali kam ihm entgegen. Die Frau des Stiefali kam ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Die Frau sah ihn und trat zurück. Die Frau fragte: ,,Wer bist du?" Der rechte Ali sagte: ,,Ich bin Ali, der Stiefbruder jenes Ali, der dein Gatte ist. Ich habe wahrgenommen, daß meinem Bruder etwas zugestoßen sein müsse. Deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht, ihn zu suchen. Dich aber bitte ich, mir alles zu sagen, was du über den Zweck und die Richtung des Rittes weißt, zu dem er zuletzt auszog und von dem er nicht wieder zurückgekehrt ist." Die Frau dankte Ali und sagte ihm alles, was sie vom letzten Jagdritt seines Stiefbruders wußte.

Am andern Tage machte sich der rechte Ali zu Pferde mit seinen Hunden auf den Weg. Die Leute, die ihm begegneten, sagten: ,,Ali, warum reitest du schon wieder fort!" Ali sagte: ,,Es ist etwas im Walde geblieben, das muß ich holen." Ali ritt in der Richtung auf den Wald zu. Der rechte Ali kam in den Wald und ritt lange im Walde dahin.

Abends begann es zu regnen. Der rechte Ali stieg vom Pferde und begann ein Feuer zu entzünden. Nach einiger Zeit kam die große Schlange aus dem Busch und sagte bittend: ,,Du hast ein warmes Feuer. Ich aber friere bei dem Regen. Ich bitte dich, er- laube mir, daß ich zu dem Feuer komme und mich wärme." Ali sagte: ,,So komm her und wärme dich!" Die Schlange sagte: ,,Ich fürchte mich vor dem Pferd und vor den Hunden. Ich bitte dich,

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binde sie an, damit ich ohne Furcht zu dem Feuer kommen kann." Der rechte Ali überlegte die Sache; dann ging er hin und schlang den Zügel des Pferdes um einen Ast, aber so locker, daß es sich leicht losreißen konnte. Er band die Hunde an Sträucher, die aber dünn waren und leicht abbrechen konnten.** Der rechte Ali sagte: „Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Nun komm und erwärme dich am Feuer!**

Die große Schlange kam heran an das Feuer. Sie glaubte, das Pferd und die Hunde seien fest angebunden. Am Feuer angelangt, wollte sie sich auf Ali stürzen und ihn verschlingen. Der rechte Ali rief sein Pferd und seine Hunde. Das Pferd und die Hunde kamen herbei. Das Pferd sprang der großen Schlange mit den Füßen auf den Kopf. Die Hunde packten die große Schlange am Schwanz. Der rechte Ali ergriff sein Schwert und schlitzte der großen Schlange den Leib auf. Die große Schlange starb. Der rechte Ali sah aber, daß im Bauche der Schlange der Stiefali lag. Der Stiefali war tot. Der rechte Ali nahm seinen Bruder heraus und weinte.

Am andern Tage saß der rechte Ali noch immer vor seinem Bru- der und weinte. Er hörte im Gebüsch ein Geräusch und schaute auf. Er sah, wie zwei Eidechsen miteinander .kämpften. Eine der Eidechsen schlug die andere (mit dem Schwänze) aber so, daß sie eine schwere Wunde erlitt und starb. Kaum war die eine Ei- dechse tot, so lief die andere hin zu einer Pflanze, riß ein Blatt ab, trug es dahin, wo die Getötete lag und legte es auf die Wunde. Darauf lebte die tote Eidechse wieder auf. Der rechte Ali sah das alles. Der rechte Ali fragte die Eidechse: ,,Du hast soeben die andere Eidechse getötet und dann wieder lebendig gemacht. Sieh, hier liegt mein Bruder Ali, der wurde von der großen Schlange ver- schlungen und starb. Kannst du, die du die andere getötete Eidechse wieder lebendig gemacht hast, mir vielleicht einen Rat geben, wie ich meinen von der Schlange verschlungenen und getöteten Bruder wieder lebendig machen kann?**

Die Eidechse sagte: ,,Dein Bruder Ali ist nicht nur einfach ge- tötet und verschlungen, sondern er ist von der Schlange vergiftet worden. Wäre er nur getötet durch Verschlingen oder durch eine Wunde, so könnte er durch Auflegen von Blättern jener Pflanze wieder lebendig gemacht werden. So aber müßte das Gift entfernt werden, und das geht nur so, daß die Kinder einer Löwin ihm das Gift ablecken. Wenn das geschehen ist und du dann die Blätter auf- legst, so wird dein Bruder Ali wieder zum Leben erwachen.** Nach-

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dem die Eidechse das gesagt hatte, lief sie mit der anderen von dannen.

Ali bestieg sein Pferd. Er ritt aus dem Walde heraus und noch weiter, bis er auf Hirten stieß, die Rinder weideten. Ali kaufte ihnen ein Rind ab. Dann fragte er die Hirten: ,,Wißt ihr vielleicht, wo hier in der Gegend eine Löwin haust, die Junge hat?" Die Hirten sagten: ,, Reite zurück in der Richtung auf den Wald, aus dem du gekommen bist. Am Rande des Waldes haust eine Löwin." Ali bedankte sich und ritt zurück.

Sobald er die Spur der Löwin gefunden hatte, band er das Rind an und hielt sich in der Nähe. Als es Nacht war, kam die Löwin mit ihren Jungen und wollte sich auf das angebundene Rind stürzen, um es zu zerreißen. Ali sprengte sogleich herzu und sagte: ,,Laß das Rind oder ich töte dich." Die Löwin sagte: ,, Meine Jungen haben Hunger. Ich bitte dich, laß mir das Rind. Ich schwöre dir, daß ich alles tun werde, was ich vermag, wenn du mir das Rind über- läßt." Ali sagte: ,,So schwöre noch einmal." Die Löwin schwur. Darauf ließ er der Löwin und ihren Jungen das Rind.

Nachdem die Löwin und ihre Jungen das Rind aufgefressen hatten, kam die Löwin zu dem rechten Ali zurück und sagte: ,,Wir haben unser Mahl beendet. Nun sage mir, was ich tun soll, um meinen Schwur einzuhalten." Der rechte Ali sagte: ,,Im Walde liegt mein Stiefbruder Ali, die große Schlange hat ihn verschlungen und getötet. Sie hat ihn dabei mit ihrem Gift vergiftet. Ich habe die große Schlange getötet und meinen Bruder aus ihrem Leibe heraus- gezogen. Nun kann ich ihn wieder lebend machen, sobald das Gift durch deine Jungen abgeleckt ist. Um nun deinen Schwur zu hal- ten, sollen deine Jungen die Wunden meines Stiefbruders Ali aus- lecken." Die Löwin sagte: ,,Das werden meine Jungen tun, zeige uns den Weg."

Ali ritt voraus in den Wald hinein. Die Löwin und ihre Jungen folgten. Ali kam an die Stelle, an der er die große Schlange getötet hatte. Die Jungen der Löwin begannen sogleich, die Wunden Alis auszulecken. Nachdem dies geschehen